Analyse: Der Jamal-Adams-Trade

„Hey Seattle, we got a deal!“ Am 25. Juli 2020 schallten wohl diese Worte durch die noch relativ leeren Flure des Virgina Mason Athletic Center (VMAC). Soeben war durchgesickert, dass die Seattle Seahawks einen der größten Trades der Franchise-Geschichte eingetütet hatten. Um den wechselwilligen All-Pro-Strong-Safety Jamal Adams und einen Viertrundenpick (2022) von den New  York Jets in die Emerald City zu holen, schickte General Manager John Schneider im Tausch zwei Erstrundenpicks (2021, 2022), einen Drittrundenpick (2021) sowie Allzweck-Safety Bradley McDougald in den Big Apple.

Quarterback Russell Wilson hat nun einen weiteren Superstar an die Seite bekommen, wie er ihn in der Offseason so vehement gefordert hatte. Doch nicht nur auf den ersten Blick hängt an diesem Superstar ein ziemlich hoher Preis. Dieser wirft die Frage auf: Was bekommen die Seahawks im Tausch für so viel Draft-Kapital und einen unumstrittenen Leader des Teams?

Jamal Adams: 24 Jahre jung, Pro Bowler, Rekord-Mann und Führungsfigur

Dass die Jets im NFL Draft 2017 den Safety der LSU Tigers in der 1. Runde an sechster Stelle pickten, zeigte, wie viel Potenzial sie in Adams sahen. Und der zahlte dieses Vertrauen in den nächsten drei Jahren mit Leistungen zurück, die ihn heute zu einem der besten Safetys der Liga machen. Schon in seiner Rookie-Saison deutete der gebürtige Texaner dabei an, wie wertvoll er sein kann. In 16 Spielen lieferte er 80 Tackles und zwei Sacks, bevor er ein Jahr später endgültig den Durchbruch schaffte. Auf 112 Tackles, 3,5 Sacks, drei forcierte Fumbles und eine Interception folgte Adams‘ erste Pro-Bowl-Nominierung und die Wahl ins Second-Team All-Pro, bevor er sich 2019 noch einmal steigerte.

Am Ende der Saison ging es dank 75 Tackles, einer Interception, zwei forcierten Fumbles und zwei Defensiv-Touchdowns wieder in den Pro Bowl und diesmal sogar ins First-Team All-Pro. Dazu verzeichnete Jamal Adams bei 78 Pass-Rush-Versuchen eine Druck-Rate von 29,5 Prozent und 6,5 Sacks. Zum Vergleich: Das sind genauso viele (7), wie Rasheem Green und Jadeveon Clowney in der Saison zusammen für die Seahawks sammelten!

Mit diesen Qualitäten dürfte sich Adams ziemlich nahtlos in die Defense in Seattle einfügen. Hier trifft er nicht nur auf einen defensiv eingestellten Head Coach und ehemaligen Defensive Back, Pete Carroll, sondern auch auf einen Defensive Coordinator, Ken Norton Jr., der immer schon auf gute Tackler wie Bobby Wagner baut und Linebacker und Safetys gerne blitzen lässt. Doch neben seiner Stärke in der Laufverteidigung glänzt der ehemalige Jets-Star auch in der Passverteidigung gegen bullige Tight Ends und Running Backs. Er könnte in Seattles System der Kam Chancellor 2.0 werden.

Ein weiteres Plus des Adams-Trades: Mit Quandre Diggs und Adams sind die Seahawks auf der Safety-Position jetzt top aufgestellt. Für den Startplatz-Anwärter Marquise Blair dürfen die Chancen auf mehr Einsatzzeit auf der Nickel-Position größer sein. Ergänzt wird das Trio von Shaquill Griffin und (Stand heute) Quinton Dunbar als Starter auf den Cornerback-Positionen. In dieser Zusammenstellung könnte die Secondary der Seahawks damit wieder auf ein neues Level gehoben werden.

Das ist nach der Saison 2019 wohl auch bitter nötig. Da pflückte Seattles Passverteidigung zwar 16 Interceptions aus der Luft und limitierte gegnerischen Receivern auf nur 19 Touchdowns, landete statistisch aber trotzdem am unteren Ende der NFL auf dem 27. Platz. Der Grund: Die Secondary erlaubte nämlich insgesamt 4.223 Passing-Yards und damit im Schnitt 263,9 Yards pro Spiel durch die Luft. Das Resultat: Beim zugelassenen Quarterback-Rating rutschte die Truppe von Pete Carroll auf Rang 22 ab. Das letzte Mal, das Seattle in diesem Bereich so schlecht da stand, war 2010. Das war ein Jahr bevor sich einige Männer als Legion of Boom einen Namen machten.

War es ein Fehler der Seahawks, so viele Picks für Jamal Adams herzugeben?

Bei all dem Hype um den Adams-Trade gibt es aber auch viele Stimmen, die den Preis als viel zu hoch einschätzen. Seattle habe viel zu viel Draft-Kapital abgegeben. Zum Vergleich: Zwei Erstrundenpicks gaben die Chicago Bears 2018 für Outside Linebacker Kahlil Mack und zuletzt 2019 die Houston Texans für Offensive Tackle Laremy Tunsil sowie die Los Angeles Rams für Cornerback Jalen Ramsey ab. Die Pittsburgh Steelers schickten im Tausch für Top-Safety Minkah Fitzpatrick in der gleichen Saison nur einen Erstrundenpick nach Miami zu den Dolphins.

Der Trade für Adams ist das Resultat jahrelangen Misserfolgs von Pete Carroll und John Schneider wenn es um die Auswahl von jungen Safetys im NFL Draft geht. Tedric Thompson, Lano Hill, Marquise Blair – keiner dieser Spieler wurde adäquater Ersatz für Kam Chancellor oder Earl Thomas. Das ist verdammt ärgerlich, wenn man bedenkt, dass die Seahawks Thomas‘ Vertrag hätten verlängern können. Aber im Nachhinein lässt sich das auch leicht sagen. Sie hätten sich damit viel Drama erspart, wären aber ähnliches Risiko gegangen wie zuvor bei Chancellor. Bei dem hatten sie es aufgrund von Verletzungen schnell wieder bereut.

Die Problemposition Safety

Der folgenschwere Abschied von Thomas und die erfolglose Suche nach einem Ersatz brachten zuletzt die gesamte Philosophie Carrolls ins Wanken. Beim einem Trade in dieser Preisklasse schwingt nun fast schon ein wenig Verzweiflung mit. Man hatte das Gefühl, eine Baustelle im Kader dringendst beheben zu müssen und schnürte deswegen ohne Rücksicht auf den Preis ein unwiderstehliches Trade-Angebot.

Wenn man etwas tiefer in die Zahlen schaut, lässt sich erahnen, warum General Manager John Schneider so tief in die Tasche gegriffen hat. Zunächst verwundert es nicht, dass die Seahawks einen Erstrundenpick für vermeintliche Stars abgeben. Hier kommen Fans vor allem der verletzungsanfällige Wide Receiver Percy Harvin und der eindimensionale Tight End Jimmy Graham in den Sinn. Letzterer war bei seinem Trade aber schon 29 Jahre alt. Und Harvin bekam direkt einen neuen Vertrag über sechs Jahre und 67 Millionen Dollar spendiert.

Jamal Adams ist hingegen erst 24 Jahre alt und sein Rookie-Vertrag läuft noch bis zum Ende der Saison 2021. Sein Grundgehalt liegt damit aktuell bei 825.000 US-Dollar, während das von Bradley McDougald bei 3,6 Millionen Dollar liegt. Kurzfristig ist das eine super Sache für die Seahawks. Adams gibt Seattle ein kleines bisschen mehr Cap Space. Vielleicht für die Verpflichtung eines Pass Rushers namens Jadeveon Clowney oder Everson Griffen (bei gleichzeitigem Veteran-Cut)?

Wann kommt der Zahltag für Jamal Adams – und für wen sonst noch?

Dass die Seahawks Adams wegen des Trades einen Anschlussvertrag anbieten und ihn spätestens in zwei Jahren zu einem der bestbezahlten Safetys der Liga machen werden, sollte das Management wohlwissend mit einberechnet haben. Jedoch wird Adams in den kommenden Monaten nicht der einzige Verteidiger der Secondary sein, der einen dicken neuen Vertrag fordert. Auch Shaquill Griffin, Quandre Diggs und Quinton Dunbar hoffen auf eine üppigen Zahltag. Adams ohne neues Arbeitspapier wieder ziehen zu lassen, wäre fatal. Die Verhandlungsposition des Spielers ist hier die bessere. Doch wenn die Seahawks nicht einen enormen Trade-Gegenwert verpulvert haben wollen, müssen sie mittel- bis langfristig gesehen an oder über die Schmerzgrenze gehen. Kosten dürfte das über 15 Millionen US-Dollar pro Jahr. Dieses Geld bekommt aktuell der gehaltstechnische Nummer-eins-Safety der Liga, Eddie Jackson von den Chicago Bears.

Ein weiteres Trostpflaster für skeptische 12s: Die Draft-Bilanz der Seahawks. Dadurch, dass man sich in den vergangenen Jahren im Pacific Northwest zu einem Spitzenteam entwickelt hat, durfte das Front Office in der 1. Runde immer sehr spät picken. Wenn überhaupt, denn oft tauschten John Schneider und Pete Carroll ihre Erstrundenpicks für Picks in der 2. oder 3. Runde ein. Diese Möglichkeiten hat Seattle 2021 und 2022 jetzt nicht mehr. Damit fehlt auch die Chance auf Talente wie DK Metcalf, dessen Auswahl 2019 an 64. Stelle Teil eines Trades war.

Auf der anderen Seite haben die Picks, die die Seahawks in den vergangenen Jahren in der 1. Runde getätigt haben, nicht unbedingt ihre Vorschusslorbeeren auf dem Feld eingeheimst. Right Tackle Germain Ifedi (2016) trauert man nach seinem Abgang in der Free Agency Richtung Chicago Bears nicht wirklich hinterher. (Höchstens wegen des günstigen Vertrages dort.) Running Back Rashaad Penny (2018) hat sein Können selten aufblitzen lassen und muss sich von einer schweren Knieverletzung zurück kämpfen. Defensive End L.J. Collier (2019) sah in seiner Rookie-Saison wegen gesundheitlicher Probleme kaum das Feld. Und Jordyn Brooks (2020) hat bisher logischerweise nur an virtuellen Team-Meetings teilgenommen.

Man könnte etwas höhnisch sagen, dass die Seahawks für Adams ja quasi „nur“ Penny und Collier (plus Drittrundenpick) hergegeben haben. Aber dann müsste man auch eingestehen, dass das kein guter Arbeitsnachweis für das Front Office ist. Das aber hätte sich möglicherweise mit etwas Glück in den kommenden Jahren durch bessere Picks wieder ändern können.

Viele Fragezeichen rund um College Football und NFL Draft 2021

Jedoch: Draft-Picks, die zwar auf Rookie-Verträgen günstiger und somit bei potenziell sinkender Salary Cap von Vorteil sind, dürften aufgrund der aktuellen Covid-19-Lage (College-Saison?) in der kommenden Offseason noch mehr Lotterie sein als sonst. Diese wird es nun aber genauso wenig wie die Vervielfältigung von Picks durch Trades nach unten geben. Dafür fehlt die Munition.

Der letzte echten Rohdiamant, den die Seahawks in der 1. Draft-Runde ausgewählt haben und der vom Trainerstab in Seattle zu einem Superstar vom Kaliber Jamal Adams‘ geschliffen wurde, war Earl Thomas. Er, der jahrelang ein Anker der Legion of Boom und Super-Bowl-XLVIII-Champion war, wurde 2010 an 14. Stelle ausgewählt.

Jamal Adams ist vielleicht der beste Spieler, den John Schneider und Pete Carroll seit Russell Wilson und Bobby Wagner im Jahr 2012 in den Pacific Northwest geholt haben. Im Oktober wird er 25 Jahre alt und war bereits zweimal All-Pro. Vor ihm dürften noch einige gute Jahre im Seahawks-Dress liegen. Mit ihm dürfte Seattle in der NFC West ein Stück näher an die San Francisco 49ers herangerückt sein. Durch ihn könnten die Seattle Seahawks kurzfristig wieder ein ernstzunehmender Mitfavorit werden – bevor die Verantwortlichen dann finanziell bedingt recht schnell wieder schwere Entscheidungen treffen müssen.