Reitausflug ohne Russell: Quarterback-Reset bei den Seahawks

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Foto: Dustin Bradford/Getty Images

„Blockbuster: After weeks of negotiations, in one of the largest trades in NFL history, the Seattle Seahawks and Denver Broncos have agreed to terms for a deal involving Super-Bowl winning QB Russell Wilson, sources tell ESPN.”

Es war dieser Tweet von ESPN-Experte Adam Schefter, der am 8. März 2022 in Seattle und bei 12s auf der ganzen Welt einschlug wie eine Bombe. Insbesondere auch bei dem Autor dieses, nennen wir es ‚Abgesanges‘ auf die Seahawks-Karriere von Russell Wilson. Hier ließ er das Fanboy-Herz gewaltig in die Hose rutschen. Denn nach einer zugegeben verkorksten Saison 2022, die durch eine frühe Fingerverletzung des Franchise-Quarterbacks verhagelt wurde, rechnete nach der unerwartet ruhigen und nahezu harmonischen Offseason zwischen der Seahawks-Führung und dem Spielmacher, kaum ein Fan mehr mit der einschneidensten sportlichen Veränderung bei den Seattle Seahawks seit der Einberufung des ehemaligen Drittrundenpicks an 75. Stelle im NFL Draft 2012. Der Trade des 33-jährigen Russell Wilson kann als Präzedenzfall in der modernen NFL eingeordnet werden. Nie zuvor war ein Franchise-QB von seinem Kaliber in bestem Alter und ohne sorgenerweckende (Verletzungs-)Historie, von seinem Team ohne potenzielle QB-Alternative in der Hinterhand zu einem anderen Team getradet worden.

Der Deal sah am Ende so aus: Russell Wilson und ein Viertrundenpick 2022 gegen die Broncos-Spieler QB Drew Lock, DT Shelby Harris, TE Noah Fant, First- und Second Round-Picks 2022 und 2023 sowie ein Fünftrundenpick 2022.

Das (vorläufige) Ergebnis: Die Regular Season 2022 läuft bei den Seahawks unter dem Motto: „Riding without Russell“ oder „Reitausflug ohne Russell“.

Trotzdem kann und soll an dieser Stelle nicht bewertet werden, welches Team als Gewinner aus diesem Trade hervorgehen wird. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, die Beweggründe dieser Entscheidung von Pete Carroll und John Schneider zu verstehen. Zwei Entscheider, die dabei trotz berechtigter Kritik seitens einiger Fans und einem weitaus weniger festem Sattel als noch vor ein paar Jahren, volle Rückendeckung von Jody Allen, Eigentümerin der Seattle Seahawks, genießen. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass dieser Trade maßgeblich auch durch das aktive Drängen von Russell Wilson forciert wurde. Eine Wahl hatten die Seahawks jedoch nichtsdestotrotz.

Russell Wilson: Der beste Quarterback, den die Seahawks jemals hatten

Es ist schwierig, Quarterback-Play unterschiedlicher Football-Äras zu vergleichen. Dennoch kann Wilson als der beste Quarterback der Franchise-Geschichte bezeichnet werden und ist rein sportlich der wichtigste Grund für den ersten Super Bowl-Sieg der Seahawks. Der Kader der Seahawks wies in den „goldenen Jahren“ zwischen 2012 und 2014 eine Vielzahl elitärer Spieler auf, die zwar auf ihrer Position im ligaweiten Vergleich noch dominanter waren, und stärker herausstachen als Wilson im Vergleich mit anderen Franchise-Quarterbacks. Quarterbacks haben in der modernen NFL nichtsdestotrotz einen vielfach höheren Einfluss auf den Erfolg ihres jeweiligen Teams.

Bevor Russell Wilson die Seahawks als Quarterback anführte, war das Team von Pete Carroll bestenfalls ein mittelmäßiges NFL-Team, das von 2010 bis 2011 eine Siegquote von lediglich 43,75 Prozent vorweisen konnte. Zwischen 2012 und 2020, den acht Jahren, in welchen Russell Wilson kein einziges Spiel verpasste, betrug die Siegquote 68,4 Prozent.

Mit Wilson wurde die Offense spürbar effizienter:

    • Offensive EPA/Play von 2010 bis 2011: -0,092 (Platz 29 in der NFL)
    • Offensive EPA/Play von 2012 bis 2020: 0,064 (Platz 5 in der NFL)

Das EPA/Play von Dropbacks isoliert die Qualität des QB-Plays noch besser:

    • Dropback EPA/Play von 2010 bis 2011: -0,052 (Platz 26 in der NFL)
    • Dropback EPA/Play von 2012 bis 2020: 0,157 (Platz 4 in der NFL)

Zum Vergleich: Die Seahawks unter Matt Hasselbeck hatten zwischen 2001 und 2010 im Schnitt ein offensives EPA/Play von -0,006 (Platz 12) und ein Dropback EPA/Play von 0,045 (Platz 11).

Russell Wilson gab den Seahawks über seine gesamte Karriere am Pudget Sound eine derartig hohe Baseline, die der Franchise zuvor über einen solch langen Zeitraum kein anderer QB gegeben hatte. Verbunden mit seinem billigen Rookie-Vertrag war der Wert Wilsons‘ in seinen ersten vier bis fünf Jahren in der NFL mit extrem niedrigen Cap-Hit zeitweise wohl mit der höchste in der NFL. Somit hatte das Arbeitspapier einen besseren Value als die Verträge der Bradys und Mannings der Liga. Mit seinen beiden Vertragsverlängerungen schwand dieser Vorteil logischerweise. Dennoch war es die absolut richtige Entscheidung, Wilson zu bezahlen.

Was zu Beginn seiner Karriere ein absolut starker und gut bestückter Kader mit gutem bis elitärem Supporting Cast war, entwickelte sich in der Folge allerdings zu einer veritablen One-Man-Show. Auch bedingt durch Kader-Missmanagement sowie dem hochdotierten Vertrag Wilsons, der in der Kaderplanung weniger Spielraum für Missmanagement ließ. Ab etwa 2016 war es Wilson, der die Seahawks regelmäßig im Alleingang in die Playoffs führte. Mit einem alternden und qualitativ immer schwächer werdendem Roster sollte es jedoch nach der Super Bowl-Niederlage gegen die Patriots im Januar 2015 nie wieder für mehr als die Divisional Round reichen.

Wie wahrscheinlich wäre ein zweiter Super Bowl-Sieg der Seahawks mit Russell Wilson gewesen?

Der Sprung ‚over the top’ in Richtung Super Bowl schien seit 2016 zwar durch Wilson möglich. Die Konkurrenz durch andere Teams, mit fortschrittlicherem In-Game-Coaching, gleichwertigen oder stellenweise auch etwas besserem Quarterback Play kann hier jedoch als Katalysator angesehen werden. Dazu hatte die NFL-Konkurrenz deutlich stärkere Kader, die Carroll und Schneider zum Umdenken brachten und sie offener für die Möglichkeit machten, Russell Wilson eines Tages zu traden.

Die NFL ist eine Quarterback-Liga. Das ist bereits der Grund für die absolute Seltenheit von Teamwechseln vergleichbarer Franchise-Quarterbacks. Ohne Top 10-Quarterback ist es nahezu eine Unmöglichkeit, den Super Bowl zu gewinnen. Nun haben sich die Seahawks freiwillig wieder auf diese wohl schwierigste und riskanteste Suche in der NFL gemacht. Deshalb sollen die Hauptargumente, die für oder gegen einen Trade Wilsons sprachen, vorgestellt werden. Die Frage, von der sich die Seahawks dabei primär leiten ließen, war letztendlich: Wie wahrscheinlich ist ein erneuter Super Bowl-Sieg mit Wilson under center? Die finale Antwort von Carroll und Schneider darauf ist aufgrund des durchgeführten Trades offensichtlich: Gering.

Was gegen einen Trade von Russell Wilson sprach

Das Hauptargument gegen einen Trade wurde mehr oder minder schon gemacht: Im Grunde ermöglicht nur ein Top 10-Quarterback wie Wilson die (große) Chance auf einen Super Bowl-Sieg. Teams ohne Franchise-Spielmacher sind prinzipiell bereits vor der Saison raus aus der Championship-Verlosung und ist de facto sportliche Realität in der NFL.

Ein weiteres Argument ist die Überzeugung, das Super Bowl-Fenster mit einem Franchise-QB auszureizen, bis es nicht mehr geht. Soll heißen, bis zu seinem Karriereende oder einem Punkt, an dem sein Alter zur sportlichen „Klippe“

führt und sein Leistungsniveau rapide abfällt. Hintergrund ist die komplizierte und schwierige Suche nach einem Franchise-Quarterback. Franchises wie die Dolphins, Jaguars oder Bears sind beste Beispiele dafür, dass diese Suche über Jahrzehnte vergeblich sein kann. Mit entsprechendem, nahezu garantiertem sportlichem Misserfolg. Ein Szenario, das den Seahawks nun ebenfalls droht. Anstatt das Fenster mit Wilson auszureizen, entschied man sich aktiv für dieses Risiko. Darüber hinaus machten die Seahawks bis dato keine Anstalten mit aggressiven Trades und Cap-Management nach dem Vorbild der Saints oder Rams das Fenster mit Wilson weiter zu öffnen.

Was für einen Trade von Russell Wilson sprach

Wilson schaffte es bekanntlich nie, die Seahawks trotz ihrer Schwächen im Kader, nach der Super Bowl-Niederlage auf MVP-Niveau über eine gesamte Saison gut zu machen. Sprich: Er alleine war nicht in der Lage diese Kaderlücken, die nicht er, sondern eher die Entscheidungen des Front Office verursachten, zu kaschieren. Etwas, zu dem beispielsweise Patrick Mahomes oder Aaron Rodgers in den letzten drei Jahren immer wieder im Stande waren. WIm Gegensatz zu seinen aus Cap-Sicht billigen Rookie-Jahren war er außerdem kein wirkliches Upgrade mehr zu anderen Franchise-Quarterbacks, sondern valuetechnisch auf Augenhöhe oder stellenweise sogar etwas darunter anzusiedeln.

Laut den Stats zum Offensiven EPA/Play zwischen 2016 und 2020, waren die Seahawks „nur“ noch ein Top-10 Team und von der absoluten Elite obendrein ein gutes Stück weit entfernt:

Darüber hinaus sprach für einen Trade, dass die Offseason 2022 möglicherweise die letzte Möglichkeit war, einen angemessenen Preis für Wilson zu bekommen. Sein Vertrag lief nur noch bis 2023 und der Franchise-QB wäre im Dress der Seahawks in der nächsten Offseason bereits 34 Jahre alt geworden. Das sind Faktoren, die den Preis nur weiter gedrückt hätten. Das Motto könnte gewesen sein: Jetzt oder nie.

Daran anschließend hätten die Seahawks-Verantwortlichen sich, im Falle eines Festhaltens an Wilson, aktiv dafür entscheiden müssen ihn spätestens in zwei Jahren zum bestbezahlten Quarterback der Liga zu machen. Das haben nun die Broncos fast getan. Denn trotz steigendem Cap-Space liegt sein neuer Vertrag im Jahresschnitt nicht wie erwartet weit jenseits der 50 Millionen-Dollar-Marke. Trotzdem liegt die Vermutung nahe, dass Schneider und insbesondere Carroll auch auf ein solches Erbenis darauf keine Lust hatten. 2022 wären die Seahawks mit eklatanten Kaderlücken auch ohne hohen First Round-Pick gewesen. Durch den Trade kann der Kader in diesem und im nächsten Jahr wieder eine ansonsten nicht mögliche Talentspritze bekommen.

Es gibt auch rein sportliche Argumente gegen Wilson: Mit ihm als Quarterback konnte Seattle nie über eine gesamte Saison eine High Volume Passing-Offense spielen. Das könnte an seinem Spielstil liegen. Die meisten solcher Offensiven sind mehrheitlich aus 5-Step-Konzepten aufgebaut. Ein Konzept, bei dem Wilson jedoch seine schlechteste Erfolgsrate aufweist.

Wilson ist ein unkonventioneller Quarterback, der anders als die meisten erfolgreichen Spielmacher seinen Erfolg aus sehr „instabilen“ Plays zieht. Die Intermediate Mitte-Range, im Prinzip das ‚Bread and Butter‘ für NFL Passing-Attacks, ignorierte Wilson über seine gesamte Karriere und suchte die Big Plays über die Sideline. Bis dato ging dieser Spielstil verbunden mit den Problemen aus 5-Step-Konzepten und höherer Early Down-Passing Rate nicht länger als eine halbe Saison gut. Insbesondere, wenn Defensiven darauf fast ausschließlich mit zwei tiefen Safeties reagierten und Wilson dazu zwangen, seinen Lieblingsbereich des Feldes zu ignorieren und über die unliebsame Mitte zu gehen. Eine Flexibilität, die Brady, Rodgers oder Mahomes in höherem Maße haben.

Dazu wird oft vergessen, dass vieles in Wilsons‘ QB-Play aus Dingen besteht, die bei anderen (auch elitären) Quarterbacks absolut unbeständig sind. Er geht kaum über die Mitte des Feldes, er läuft viel, um Spielzüge Downfield zu machen. Dadurch nimmt er zu viele Sacks und trifft aber eine absurde Anzahl von tiefen Go-Routen. Wir nehmen diese Aspekte seines Spiels als selbstverständlich hin, weil es für ihn funktioniert. Doch die meisten Quarterbacks können nicht in einer solchen Welt leben.

Tiefpassspiel ist inhärent instabil. Spielzüge außerhalb der Pocket sind inhärent instabil. Wilson mag sie stabil aussehen lassen, aber er kaschiert so gut wie kaum ein anderer, dass er ein Spiel auf Messers Schneide spielt. In der ersten Hälfte der Saison 2020, als er ein sicherer Kandidat auf den MVP-Award war, ging das noch gut, doch in der zweiten Saisonhälfte brach der erfahrene QB zusammen.

Ein weiterer sportlicher Faktor, der gegen Wilson spricht: Aufgrund seines Spielstils könnte er seine sportliche „Klippe“ früher erreichen, als die Mehrheit der NFL-Spielmacher. Er gewinnt durch Big Plays und seine Mobilität aber weniger durch Antizipation. Beides Dinge, die eher füher als später nachlassen sollten. Insbesondere die Armstärke leidet, wie an den Beispielen Manning, Roethlisberger oder Brees zu sehen, wohl mit am schnellsten bei einem Quarterback.

Der Russell Wilson-Trade: Die richtige Entscheidung?

Das Besondere an Russell Wilson ist, dass er ein einzigartiger Quarterback ist, der seine gesamte Karriere damit verbracht hat, auf unkonventionelle Art und Weise Quarterback auf höchstem Niveau zu spielen. Es gibt kaum Beispiele für NFL-QBs, die versucht haben, in ihrer Karriere primär mit tiefen Bällen und Scrambles zu gewinnen. Die Folge meist eher: Eine Karriere als Backup oder das Karriereende. Wilson hat seine Karriere darauf aufgebaut – und er war fantastisch. Aber selbst wenn er so gut ist, wird er immer dem Dilemma zwischen Stabilität und Instabilität ausgeliefert sein.

Wilson und Seattle: Eine Ehe, die lange gut ging, inzwischen aber womöglich nicht mehr zusammenpasste. Seattles Kader verschlechterte sich und Wilson konnte im Gegenzug nie zum stabilen, elitären High Volume Passer werden, der über eine gesamte Saison diese Schwächen bis hin zu einem weiteren Super Bowl hätte kaschieren können. Ergo: Haben sich die beiden Seiten wohl tatsächlich auseinandergelebt.