German Football Doc #6: Herr Dr. Grünwald, was ist das Kompartmentsyndrom?

Es war der wichtigste Moment des Spiels – und Tyler Lockett saß einfach nur da und schaute zu. Nicht weil er nicht wollte, auf keinen Fall. Der Wide Receiver der Seattle Seahawks konnte nicht zurück aufs Spielfeld, um seinem Team in der Overtime gegen die San Francisco 49ers zu helfen. Es muss gegen Ende der regulären Spielzeit gewesen sein, dass sich Lockett bei einem Zusammenstoß am Schienbein verletzte und nicht mehr zurück aufs den Rasen kam, weil sein Bein anschwoll. Nach der Partie gab Head Coach Pete Carroll bekannt, Lockett werde wegen einer schweren Prellung nicht mit dem Team zurück nach Seattle fliegen. Wenige Minuten später vermutete David J. Chao (@ProFootballDoc) bei Twitter, dass Lockett wegen eines potenziellen Kompartmentsyndroms unter Beobachtung stehe. Was ist das Kompartmentsyndrom, Herr Dr. Grünwald?

„Als ich Tyler Lockett so entspannt auf der Bank sitzen sah gegen Ende des Spiels, ging ich davon aus, dass nichts Schlimmeres passiert sei. Aber als dann zu hören war, dass er zur Beobachtung ins Krankenhaus geschickt worden sei und erstmals das Wort Kompartmentsyndrom die Runde machte, deutete sich dann doch eine ernstere Situation an. In der Traumatologie (Schäden und Verletzungen am Bewegungsapparat), wo ich viel unterwegs bin, ist dieses Syndrom eine der gefürchtetsten Komplikationen bei Verletzungen.

Dabei kommt es zu einem Druckaufbau im Gewebe aufgrund einer Verletzung, bei Lockett muss das ein Schlag oder ein Stoß auf die Muskulatur im Unterschenkel gewesen sein, wo das beschriebene Symptom am häufigsten vorkommt. Eine Einblutung oder Prellung (der klassische Pferdekuss) kann dann einen Teufelskreis auslösen, der in einigen Fällen per Operation durchbrochen werden muss.

Muskelgruppen sind in einem Mantel aus Bindegewebe eingeschlossen. Wenn da von außen oder innen Druck drauf kommt, kann eine Reaktion ausgelöst werden, die dafür sorgt, dass der Muskel anschwillt. Dadurch wird der Druck noch größer und sorgt für weitere Reaktionen, die wiederum den Druck erhöhen. Das Weichteilgewebe wird dann knochenhart. Dann werden Muskulatur und Nerven nicht mehr richtig versorgt und sterben bei falscher Behandlung ab.

Um das zu verhindern, werden beim Verdacht auf Kompartmentsyndrom per Eingriff die bindegewebigen Schichten gespalten, damit die Muskulatur wieder atmen kann. Dann wird die Behandlung langwierig, denn das Bindegewebe muss – nachdem die Schwellung zurückgegangen ist – vernünftig rekonstruiert werden, damit der Patient wieder die volle Kraft im Muskel aufbauen kann. Es gibt durchaus Fälle, in denen Profis ihre Karriere beenden mussten, weil der Kraftaufbau in der Muskulatur nicht mehr ausreichend möglich war. Raheem Moore beispielsweise, einst Safety bei den Denver Broncos in der NFL (bald wohl in der neuen XFL), hätte beinahe ein Bein verloren, kämpfte sich aber zurück in den Profisport.

Woran erkennt man das Kompartmentsyndrom? Es gibt da die fünf Ps, die oft ein Hinweis darauf sind: Schmerz (Pain), Blässe (Pallor), Taubheitsgefühl (Paresthesia), fehlender Puls (Pulselessness) und Lähmung (Paralysis).

Bei Tyler Lockett ist davon auszugehen, dass am Ende kein Kompartmentsyndrom vorlag. Dennoch haben die Ärzte richtig gehandelt. Mit dem Team direkt zurückzufliegen, wäre problematisch gewesen, weil sich dadurch die Schwellung hätte verschlimmern können. Man kennt das von Leuten, die einen Gips bekommen und dann 24 Stunden lang nicht fliegen dürfen, weil dabei die Weichteile anschwellen können.

So wird Lockett ein paar Nächte im Krankenhaus verbracht haben, unter strenger Aufsicht der Ärzte. Gerade in den ersten sieben Tagen nach der Verletzung ist Vorsicht geboten, denn sie kann sich entwickeln. Hätte er aber das Syndrom gehabt, wäre er längst operiert worden – und wir wissen aus den Medienberichten der vergangenen zwei Tage, dass das nicht passiert ist. Im besten Fall kann der Wide Receiver bereits nach der aus Seahawks-Sicht optimal gelegenen Bye Week wieder mitwirken.“