„Thanks for asking!“ – Wilson oder Wilsoff?

Kommentar

Lass das mal genau dann posten, wenn Russell Wilson gerade auf dem Spielfeld steht. Das dachte sich vermutlich der oder die Social-Media-KoordinatorIn der WNBA irgendwann vor dem vergangenen Sonntag – und plante den folgenden Tweet zum Quarterback der Seahawks und zu Seattles Basketball-Legende Sue Bird für kurz nach 15 Uhr Ortszeit ein.

Vorgeplante Tweets – das weiß ich als jemand, der beruflich mit Social Media zu tun hat – sind riskant. Wer dennoch davon Gebrauch macht, nimmt in Kauf, dass aktuelle Umstände den Kontext des Postings entfremden. Das soll kein Vorwurf an einen Kollegen oder eine Kollegin sein. Noch vor ein paar Wochen hätte ich wohl keine Einwände gehabt. Schließlich handelt es sich beim im Tweet zitierten um einen der besten Quarterbacks seiner Zeit. Was soll da schon groß schiefgehen?

Aber vor ein paar Wochen hat Russell Wilson zum Saisonstart auch noch 4, 5, 5, 2, 3 Touchdowns aufgelegt. Da war er auf Kurs Richtung Touchdown-Saisonrekord und wertvollster Spieler der Liga. Und so entlockte ihm die Freude über den fünften Sieg im fünften Spiel damals einen Satz, der als Wertschätzung für Sue Bird in Anlehnung an seine Meisterleistungen gedacht war. Acht Wochen später muss man sich fast gar fragen, ob Bird an diesem Abend des Seahawks-Heimspiels gegen die New York Giants zu Hause in Seattle vor dem Fernseher saß, aufs Smartphone starrte und über das Timing des Vergleichs zumindest irritiert war.

Nach acht Interceptions, etlichen Sack-Yards und vier Niederlagen in den vergangenen sieben Spielen kann Russell Wilson sich gerade nicht mehr wie Sue Bird fühlen. Denn wenn Sue Bird sich wie Sue Bird fühlt, dann führt sie ihr Team zur Meisterschaft in der WNBA. 2004, 2010, 2018, 2020 – viermal. Von ihren zahlreichen individuellen Auszeichnungen sei da noch garnicht gesprochen.

Um 15.05 Uhr Ortszeit am vergangenen Sonntag in Seattle – die Seahawks waren gerade mit 5:8 in Rückstand geraten – wirkte dieser Tweet also ein wenig Fehl am Platz. Denn zwischen dem darin aufgewärmten Zitat und der neuerlichen Veröffentlichung liegen nicht nur die angesprochenen acht Wochen. Dazwischen liegen auch der steile Absturz eines MVP-Favoriten, der krasse Einbruch der besten Offensive der Liga und das Verschwinden eines Clutch-Spielmachers. Eines der schwächsten Teams der Liga hatte Wilson und seine Mitspieler zu diesem Zeitpunkt mit zugegeben hervorragendem Verteidigungsspiel komplett ausgeschaltet. Die fünf Punkte waren durch ein Field Goal und einen Safety zustande gekommen.

Beschreibt man diese Flaute in den Worten von Seahawks-Cheftrainer Pete Carroll, dann klingt das etwa so, wie er es am Donnerstag in Bezug auf die jüngste Niederlage geäußert hat: „Ich hatte vom Spiel den Eindruck, dass die Pass Protection gut war. Wir mussten produktiver werden und wir hatten die Chancen dazu.“

Es ist das höchste der Gefühle, wenn man auf Kritik von Carroll an seinem Spielmacher hofft. An der ESPN-Geschichte aus dem September 2018 war unbestritten immer etwas dran – auch wenn man das Ausmaß der Sache nicht überbewerten darf. Damals beklagten einige Seahawks anonym, dass Russell Wilson bei seinem Trainer eine Sonderbehandlung genieße. Und während diese bei einem Franchise-Quarterback nicht ungewöhnlich ist, so sollte sie doch Grenzen haben. Öffentliche, direkte Kritik an Russell Wilson darf kein Tabu sein, solange sie sachlich bleibt.

Weil es aber zu selten jemand aus dem direkten Umfeld der Seahawks so direkt und offen ausspricht, weil sich die Verantwortlichen in Seattle oft auch nach schwachen Spielen schützend vor ihren Quarterback stellen (wie am Donnerstag Offensive Coordinator Brian Schottenheimer, indem er eine Teilschuld auf sich nahm), kritisiere nun ich. Wenn ich mir die Spielausschnitte vom Sonntag noch einmal zu Gemüte führe, dann sehe ich zum wiederholten Mal in dieser Saison:

Nicht falsch verstehen: Die Offensive der Seahawks hat auch Probleme, die mit Coaching (Entscheidungsfindung) und Play Calling (Anpassung) zu tun haben. Seattles größtes Hindernis auf dem Weg zurück zur Form aus den ersten Spielen ist und bleibt aber der formschwache Quarterback.

Ich glaube, dass Russell Wilson sich diese Kritik gefallen lassen muss. Ich glaube auch, dass er diese Kritik aushält. Zumindest glaube ich, dass ein Spieler, der öffentlich neue Waffen und den Generalschlüssel zur Offensive forderte, nicht von dieser Kritik überrascht sein darf. NBC-Reporter Joe Fann twitterte nach dem Spiel – vielleicht im Spaß –, dass nach der Defensive der Seahawks nun Seattles Offensive ein Accountability-Meeting abhalten sollte.

Ich sehe das anders.

Wir alle erinnern uns gerne zurück an die Legion of Boom. Diese Gruppe giftiger, überehrgeiziger, etwas vorlauter junger Männer, die Gegenspieler über die sozialen Medien herausforderte. Die die eigenen Wide Receiver im Training beschimpfte und sich mit TV-Moderatoren anlegte. Aber: „Is it bragging if you back it up?“ Ja, das waren großmaulige, manchmal auch mit ein bisschen Fremdscham verbundene Handlungen, doch die LOB rechtfertigte sie stets mit Leistung.

Auf den etwas zurückhaltenderen Wilson umgemünzt: Der, der in der Offensive nach mehr Verantwortung schrie, muss diese nun auch übernehmen.

Für den Rest der Saison. Nicht nur für ein weiteres Bounce-Back-Spiel.

Für die Eindimensionalität der Offensive ist er hauptverantwortlich, wenn er Alternativen ignoriert. Wenn er ständig gierig mit einem Pass auf den gedeckten Receiver das komplette Feld überbrücken will. Wenn er nicht Schritt für Schritt und mit Auge für den freien Mitspieler sein Team übers Feld führt. Wilson muss sich wieder mit weniger zufrieden geben, um mehr daraus zu machen.

Natürlich war zu erwarten, dass er nicht Spiel für Spiel fünf Touchdown-Pässe werfen würde. Natürlich war klar, dass irgendwann Mitte der Saison das klassische kleine Formtief kommen würde. Aktuell aber steckt der oft so herausragende Seahawks-Quarterback in einem tiefen Loch – und hat die gesamte Offensive mit hinein gezogen. Jetzt muss er zeigen, ob er der neu hinzugewonnenen Verantwortung tatsächlich gerecht werden kann. Muss er seine Spielweise anpassen. Muss er sich an seinen Forderungen messen lassen.

Sonst wird er auf ewig der MVP-Kandidat bleiben, der nur abseits des Spielfelds konstant ablieferte.