See A Hawk: Jordyn Brooks

Jordyn Brooks (Foto: imago)

Sichtlich geschockt waren alle Anhänger der Seattle Seahawks. Die erste Überraschung: „Pick is in“ – erstmals seit 2011 nutzte das Front Office den originalen Erstrundenpick im NFL Draft. Aber auch beim Verlesen des Picks folgte direkt die zweite Überraschung: Mit Jordyn Brooks haben die Seahawks hier einen, zumindest laut der öffentlichen Meinung und Experten, verwunderlichen Pick getätigt. Überrascht war auch Brooks selbst: Nach dem NFL Scouting Combine fand von Head Coach Pete Carroll und General Manager John Schneider keine Interaktion mit dem Spieler mehr statt. Alles Taktik, behauptete später Schneider. Er habe keine Aufmerksamkeit auf Brooks lenken wollen. Was macht Jordyn Brooks so besonders, dass die Seahawks ein Geheimnis aus ihm machten?

In der Rubrik „See A Hawk“ stellen wir in unregelmäßigen Abständen Spieler der Seattle Seahawks – oftmals Draft-Neuzugänge – etwas genauer vor.

LB Jordyn Brooks

Kurzinfos:

  • College: Texas Tech (2016-2019)
  • Alter: 22 Jahre (21. Oktober 1997)
  • Größe: 183 cm
  • Gewicht: 108 kg
  • Armlänge: 84 cm
  • Handgröße: 23 cm
  • Draft: 1. Runde, Pick #27

College-Statistken (2019):

  • Spiele: 11
  • Tackles (Solo/Gemeinsam): 108 (66/42)
  • Tackles für Raumverlust: 20
  • Sacks: 3
  • Fumbles (Forciert/Erobert): 3 (1/2)

Werdegang

Jordyn Brooks wurde in Dallas geboren und wuchs im rund 250 Meilen entfernten Houston auf. Damit ist er ein waschechter Texaner, durchlief in seinem Heimatstaat die High School, in der er sämtliche Auszeichnungen der Region gewann, und entschied sich dann für die Texas Tech University in Lubbock. Er blieb also Texas bis zum Ende seiner schulischen Ausbildung stets treu.

Auf dem College ging sein steiler Aufstieg nahtlos weiter: Auswahl als All-American in jedem seiner Jahre an der Universität, Tackle-Leader in der Conference und in seinem Senior-Jahr (dem letzten Jahr am College) wurde er auf die Kandidatenliste des Butkus Award gesetzt – eine Auszeichnung, mit der die besten Linebacker in verschiedenen Stufen ihrer Karriere (High School, College und Profis) geehrt werden. Hier musste er sich jedoch Isaiah Simmons geschlagen, der die Auszeichung dieses Jahr auf dem College-Niveau gewann.

Abgerundet wird das Profil von Brooks mit guten akademischen Leistungen. Neben guten Leistungen auf dem Platz war er auch ein fleißiger und erfolgreicher Student. Pete Carroll war im Interview während des NFL Scouting Combine sichtlich beeindruckt von Brooks Auftreten, der einen klaren Plan hatte, sich selbstbewusst gab und gut ausdrücken konnte, was für ihn wichtig ist. Damit erfüllte er anscheinend einige Erwartungen, die Pete Carroll – wie jüngst in seinem neuen Podcast geschildert – an seine Spieler hat: Carroll möchte Spieler auswählen, die sich coachen lassen, und die in Sachen Einstellung und Charakter zu dem passen, was der Trainer erwartet.

Videoanalyse

Brooks ist ein spielintelligenter Linebacker. Damit gelingt es ihm, das Spiel zu antizipieren. 108 Tackles in elf Spielen sind ein Beleg dafür, dass Brooks oft zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, um den gegnerischen Spielzug stoppen. Ist er am richtigen Ort, setzt er seine Tackles sehr sauber und sicher, ist ein sehr zuverlässiger Tackler und sucht sich stets gute Winkel, um das Tackling anzusetzen. Im 2018er-Tape war Brooks auch in der Passverteidigung zu sehen, ist also in der Deckungsarbeit als Linebacker nicht völlig unerfahren – anders als es kurz nach dem Draft von der Anhängerschaft befürchtet wurde. Ob er aber ein zuverlässiger Coverage-Spieler auf hohem Niveau in der NFL wird, muss die Zukunft zeigen. In der Saison 2019 war Brooks in der Texas-Tech-Defense nämlich eine andere Aufgabe zuteil geworden. Oft agierte er als Quarterback-Bewacher (Spy) – ein Spieler dessen Aufgabe es ausschließlich ist, während des Spielzugs ein Auge auf den Quarterback zu haben. Am College ist die Run-Pass-Option, in der der Quarterback auch über designte Spielzüge selbst läuft (und nicht nur als allerletzte Option in zerstörten Plays), schon länger ein probates Mittel, um die Defense zu überlisten. Doch über Spieler wie Patrick Mahomes oder Lamar Jackson ist diese Entwicklung mittlerweile in der NFL angekommen, daher sehe ich auch hier eine gute Einsatzmöglichkeit für Brooks. Seine insgesamt ordentliche Geschwindigkeit und die Geduld, hinter der Line of Scrimmage zu warten und im richtigen Moment durch die Lücke zu stoßen und zum Quarterback zu gelangen, machen ihn zu einer interessanten Option. Die Fähigkeit, durch die Lücken zu stoßen, hilft Brooks dabei, den Lauf so exzellent zu verteidigen, wie er es Spielzug für Spielzug macht.

Probleme hat bei Brooks beizeiten, wenn Gegenspieler schnell die Richtung wechseln. Dann merkt man doch relativ deutlich, dass er trotz seiner Geschwindigkeit doch ein Linebacker ist. Brooks reine Körperkraft ist noch ausbaufähig. Probleme bekommt er dadurch bei Snaps, in denen er als Pass Rusher Druck auf den Quarterback erzeugen soll. Mit einem guten Antritt und der Option, den Gegenspieler durch Speed zu schlagen, stehen Brooks alle Türen offen. Einmal im Block fest gerannt, verfügt er jedoch nicht über die erforderliche Technik und den guten Einsatz der Hände, um sich lösen zu können. Hier hat er Nachholbedarf.

Größte Stärke: Brooks zeigt im folgenden Video die von mir beschriebene Stärke als Spy. Die Attribute die er für solche Plays benötigt – Geschwindigkeit, Geduld und das gute Tackling – werden ihm in der NFL nicht nur in dieser Rolle helfen. Insgesamt zeigt er hier nur Eigenschaften, die einen guten Linebacker ausmachen. Es bleibt zu hoffen, dass er diese auch für die Seahawks in der NFL beweisen kann.

Größte Schwäche: Die mangelnde Kraft und die nicht ausgefeilte Technik bereiten Brooks im folgenden Video die angesprochenen Probleme, als er sich von der Offensive Line zu lösen versucht. Der Spielzug geht völlig an ihm vorbei, obwohl er die nötigen Instinkte besitzt und das Play auch richtig liest. Wenn das bereits auf dem College-Level passiert, sollten die Trainer auf dem nächsten Level darauf achten, diese Schwächen am besten schon vor der Rookie-Saison anzugehen und im Training gezielt daran zu arbeiten. Das könnte sich aber in den ungewissen Zeiten von Covid-19 als schwer erweisen.

Seahawks-Vergleich: Bobby Wagner – mit Antizipation und sicherem Tackling zum Erfolg.

Wer selbst mehr über Brooks herausfinden möchte, kann sich auch das Video von Samuel Gold ansehen, in dem er Jordyn Brooks noch etwas genauer unter die Lupe nimmt:

 

Fazit

Die Seahawks haben mit dem Pick von Brooks einen sehr spielintelligenten, wenn auch nicht ganz fertigen Linebacker ausgewählt. Seine Fähigkeit als Quarterback-Bewacher kann in der heutigen NFL nützlich sein, um Dual-Threat-Quarterbacks in Schach zu halten. Sein Antritt ist eine seiner größten Stärken in einem sonst nicht sonderlich beeindruckenden athletischen Profil. Benötigt er dieses auf der Position des Linebackers? Das hängt davon ab, wie die Trainer ihn einsetzen. Kann er an Kraft zulegen und seine Spielintelligenz weiter nutzen und ausbauen, hat er die Möglichkeit, die thematisierten Makel zu kaschieren.

Seattle hat hier einen Pick für die Zukunft getätigt und das, obwohl auf anderen Positionen ein deutlicher Bedarf bestand und durchaus noch besteht. Das führte zu einer gewissen Verwunderung bis hin zu Kopfschütteln. Hier wählten die Seahawks-Entscheider eigenen Aussagen zufolge aber den Spieler aus, der auf ihrem Board zu dem Zeitpunkt der „beste verfügbare Spieler“ war. Das ist eine Vorgehensweise, die ich auf jeden Fall unterstütze, unabhängig davon, wie das Big Board der für den Pick Verantwortlichen aussieht. Im Draft lohnt es sich selten, Spieler nach Need auszuwählen, stattdessen sollte möglichst viel Talent im Kader versammelt werden. Ob das den Seahawks mit Jordyn Brooks gelungen ist, lässt sich erst in ein paar Jahren abschließend beurteilen. Im ersten Moment bleibt der Linebacker ein Erstrundenpick mit Fragezeichen.