Recap: NFL Draft 2020

NFL Draft 2020

NFL Draft 2020

Der NFL Draft 2020 – der erste digitale in der Geschichte der Liga – ist vorbei. Ohne größere Zwischenfälle ging die vielleicht größte Videokonferenz der Welt in den vergangenen drei Tagen über die virtuelle Bühne. Jetzt beginnt die Zeit, in der Experten die Talentauswahl aller Teams bewerten. Von überschwänglichen Lobeshymnen bis zum totalen Verriss ist alles dabei. Value und Reach sind die bestimmenden Maße. Mal liegen die Analysten absolut richtig, mal vollkommen falsch. Weil die Wahrheit oft irgendwo zwischendrin liegt, gibt’s an dieser Stelle nun wie jedes Jahr eine wertungsfreie Übersicht und Einordnung zu den acht Picks der Seattle Seahawks.

Bevor es aber im Detail um die einzelnen Picks geht, folgen ein paar Sätze zum Gesamteindruck. General Manager John Schneider und Head Coach Pete Carroll gingen mit sieben Picks in den NFL Draft 2020. Nach sieben Runden Talentauswahl stehen acht neue Spieler auf der Habenseite.

Überraschend diesmal: John Schneider fädelte nur drei Trades ein. Einer davon ging in recht ungewohnte Richtung. Am zweiten Tag arbeiteten die Verantwortlichen offenbar lange daran, weiter nach oben in der Pick-Reihenfolge zu kommen, um Pass Rusher Darrell Taylor an 48. Stelle auszuwählen. Dafür gaben sie den 59. und den 101. Pick an die New York Jets ab – eine kostspieliges Tauschgeschäft. Den klassichen Trade nach unten gab’s am gleichen Tag, als sie den Carolina Panthers für den 64. Pick die Auswahlmöglichkeiten an 69. und 148. Stelle abknöpften. Am dritten Tag wiederholte sich dann, was es schon 2019 gegeben hatte: Die Seahawks tradeten ihren Sechstrundenpick 2021 zu den Miami Dolphins, um nochmals in den Draft eingreifen zu können und sich das Tight-End/Wide-Receiver-Projekt Stephen Sullivan zu sichern.

Generell schienen die Trade-Aktiväten sich während der drei Draft-Tage in Grenzen zu halten. Die technischen Herausforderungen einer komplett digital durchgeführten Talentauswahl hinderten General Manager und ihre Assistenten wohl daran, sich den Feilschen mit der Konkurrenz hinzugeben. So blieb es insgesamt während der Draft-Übertragungen ruhig und übersichtlich.

Insgesamt erweckten die Seahawks den Eindruck, dass sie in diesem Jahr unabhängig vom restlichen Geschehen die besten verfügbaren Spieler auf ihrem Big Board auswählten, ohne dabei groß Needs zu berücksichtigen oder sich für diese zu sehr in Unkosten zu stürzen. Dass im Vergleich mit den Big Boards einiger Experten gerade bei den frühen Picks von Reaches gesprochen wird, ist fast schon Tradition. Dass ein paar andere Teams Berichten zufolge die gepickten Spieler ebenfalls an dieser Stelle ausgewählt hätten zeigt, dass sich die Analysen von Experten und tatsächlich Verantwortlichen durchaus grob unterscheiden können. Schneider und Carroll jedenfalls scheinen sich einig zu sein, dass sie in den ersten drei Runden Spieler gefunden haben, die dem Team auf dem Feld sofort weiterhelfen können.

Und deshalb nun zum alljährlichen Reminder: Grundsätzlich gilt, dass Draft-Klassen erst nach ein paar Jahren endgültig bewertet werden können. So lässt sich inzwischen zum Beispiel sagen, dass die Seahawks in den Jahren 2010 (Okung, Thomas, Tate, Thurmond, Chancellor), 2011 (Baldwin, Carpenter, Maxwell, Sherman, Wright, Smith) und 2012 (Wilson, Wagner, Irvin, Lane, Turbin, Sweezy) wohl so gut wie kaum ein NFL-Team aus einer Masse an Talenten ausgewählt haben, was sie letztendlich zu einem Spitzenteam gemacht hat. Die darauffolgenden Jahre waren eher durchwachsen bis schlecht (u.a. McDowell, Michael, Poole, Prosise, Odhiambo).

Dennoch muss auch heute schon eine erste Analyse erfolgen – auf Basis der zum jetzigen Zeitpunkt vorhandenen Informationen zu den Prospects, Needs der Teams, der Herangehensweise. Ein guter Maßstab bei der eigenen Bewertung einer Draft-Klasse ist wie immer folgende Ausführung vom deutschen College-Football-Experten Jan Weckwerth aus dem vergangenen Jahr:

Zwei Dinge deuten sich aber bei aller Spekulation und Pick-Interpretation schon jetzt an, wenn es um die Auswahl der Seahawks in diesem Jahr geht:

1) Carroll und Schneider wählten Spieler auf den Positionen aus, auf denen Seattle die Möglichkeit hat, teure Veterans zu entlassen und rund 20 Millionen US-Dollar unter der Gehaltsobergrenze einzusparen. Es ist davon auszugehen, dass der ein oder andere Cut in den kommenden Wochen oder Monaten zur Realität wird. Anders lassen sich 19 O-Liner und fünf Tight Ends nur bedingt erklären. Beide Positionsgruppen haben durchaus Auswirkung auf die Leistung von Quarterback Russell Wilson, doch es geht für die Seahawks auch darum, günstige Alternativen zu finden und so Geld für ein oder zwei Veteran-Pass-Rusher beiseite zu legen.

2) Alle acht ausgewählten Spieler kommen aus den fünf großen College-Football-Ligen der Vereinigten Staaten von Amerika. Es sind keine Prospects von kleineren Schulen dabei. Die Seahawks wollten wohl mit den Kandidaten gehen, von denen sie trotz der Coronavirus-Krise am ehesten ausreichend Film-, Interview- und Analysematerial bekommen konnten. Zudem fällt auf, dass oft Footballer in Seattle gelandet sind, die über mehrere Spielzeiten hinweg Stammspieler an ihren Universitäten waren und daher eine eher große Stichprobe vorweisen können.

Nun aber ein wenig detaillierter zur aktuellen Klasse der Seahawks. Acht Picks, verteilt über sieben Runden:

1. Runde, Pick #27: Jordyn Brooks, LB, Texas Tech

Bei vielen Experten war der Aufschrei nach diesem Pick groß. Nicht darüber, dass die Seahawks ihren ersten Pick nicht wie gewohnt nach unten traden. Sie waren bestürzt, dass die Verantwortlichen in Seattle wieder einmal einen Spieler in der 1. Runde ausgewählt hätten, den sie auch in der 2. oder möglicherweise sogar 3. Runde noch bekommen hätten können. Laut John Schneider aber war Brooks der beste noch verfügbare Spieler auf Seattles Big Board. Zudem wurde mehrfach berichtet, dass andere Teams zu diesem Zeitpunkt kurz davor gewesen seien, den Linebacker auszuwählen. Erinnerungen an 2018 (RB Rashaad Penny) und 2019 (DE L.J. Collier) wurden geweckt, als die beiden ersten Picks ebenfalls als Reaches bezeichnet wurden – und so hat es schon fast Tradition, dass die Seahawks für ihre erste Auswahl kritisiert werden.

Während Linebacker aktuell kein dringender Need zu sein scheint, lassen sich aus dem Pick die folgenden Gedankengänge des Front Office ableiten: Die Seahawks brauchen eine langfristige Option auf der Will-Position. K.J. Wrights Vertrag läuft aus. Durch eine Entlassung könnte Seattle schon jetzt Geld sparen. Seattle ist zudem nicht zufrieden mit seinen Linebacker-Picks von 2019, Cody Barton und Ben Burr-Kirven. Letzterer wird Backup bleiben und weiter in den Special Teams agieren. Barton könnte über die Sam-Rolle noch seine Spielanteile bekommen.

Die Vergleiche für Brooks reichen von Bobby Wagner (so sein und Wagners ehemaliger College-Trainer Matt Wells) bis Mychal Kendricks. Er ist ein explosiver Athlet, der in allen vier College-Spielzeiten zu den Top-Spielern seiner Conference zählte. 2019 sammelte er 108 Tackles, 20 Tackles für Raumverlust und erzielte zudem drei Sacks. Seine Stärken liegen in der Laufverteidigung und im Pass Rush, zudem ist er ein starker Quarterback-Spy. In der Passverteidigung hat er zumindest 2019 (auch bedingt durch die Defensiv-Strategie seines College-Trainers) schlecht ausgesehen, was Fragen aufwirft. Wie passt das mit der oft gespielten Base-Formation der Seahawks zusammen? Sollte ein so hoch ausgewählter Spieler in seinen Fähigkeiten nicht kompletter sein? 2018 sah er in der Passverteidigung deutlich besser aus – wird er falsch eingeschätzt? Reicht das für die NFL? Kann Brooks schnell dazulernen, beispielsweise von Bobby Wagner? Dieses Video von Samuel Gold gibt erste Antworten.

2. Runde, Pick #48: Darrell Taylor, DE, Tennessee

Taylor darf getrost als Freak-Athlet bezeichnet werden, der in Seattle den dringenden Edge-Rusher-Need stillen soll. Auch er wurde so manch einem Experten zu früh im Draft ausgewählt, doch auch an ihm waren offenbar zum Pick-Zeitpunkt schon andere Teams dran. Die Frage, ob es wirklich nötig war, einen Drittrundenpick herzugeben, um für die Taylor-Auswahl weiter nach oben zu kommen, lässt sich mit diesem Ansatz nicht zufriedenstellend beantworten.

Sportlich gesehen kann der Defensive End auf eine ordentliche College-Karriere zurückblicken. 2019 sammelte er – angeschlagen durch einen Ermüdungsbruch im unteren Beinbereich – 8,5 Sacks. Im Jahr davor waren es acht. Der klassische Speed Rusher hat einen hervorragenden ersten Schritt und generell die Veranlagung, in der NFL als Verteidiger erfolgreich zu sein. Jedoch soll ihm noch das nötige Werkzeug fehlen, seine Athletik auch stets richtig einzusetzen. Wird aus dem Rohdiamant schnell ein Stammspieler, erklärt das womöglich die Aussage von John Schneider, Taylor sei für die Seahawks auch in der 1. Runde schon eine Option gewesen.

Stand jetzt aber bleiben Fragezeichen, die aber auch mit der Situation der gesamten Positionsgruppe zusammenhängen. Die Hängepartie um Jadeveon Clowney geht weiter, ein Ende ist nicht in Sicht. Käme Clowney nach Seattle zurück, hätte Taylor ein Jahr Zeit, um sich zu entwickeln. Ohne Clowney oder einen anderen Veteran aber wird der Rookie direkt gefordert sein. Ob er diese Last gemeinsam mit den Kollegen in der Rotation, Bruce Irvin, Rasheem Green, Shaquem Griffin und Benson Mayowa, schultern kann, ist offen. Aber die Erwartungshaltung ist nach der enttäuschenden ersten Saison des letztjährigen Erstrundenpicks L.J. Collier vielleicht auch nicht mehr ganz so groß.

3. Runde, Pick #69: Damien Lewis, G, LSU

Vielleicht ist dieser junge Mann der beste Pick der Seahawks im NFL Draft 2020. Mit den LSU Tigers um Quarterback Joe Burrow (First Overall Pick) gewann Lewis gerade die nationale College-Meisterschaft. Jetzt stößt er als aktuell 19. O-Liner im Aufgebot zu den Seahawks, wo er einen der besten Quarterbacks der Liga beschützen soll. Der Guard überzeugt besonders als Blocker auf zweiter Ebene, womit er an Mike Iupati erinnert. Wieder einmal holt sich Seattle einen besseren Lauf- als Pass-Blocker. Das Gesamtpaket liest sich trotzdem gut: In 28 Spielen in den vergangen zwei Jahren ließ Lewis als Stammspieler nur fünf Sacks und 13 Hurries und 22 Pressures zu.

Von den Maßen her erinnert der Rookie an D.J. Fluker – ein richtiger Brecher. Damit ist die Aufgabenstellung für 2020 auch schon geklärt. Laut Head Coach Pete Carroll kämpft Lewis direkt mit Fluker um den Start auf Right Guard. Gewinnt der Neuling, fällt der Veteran vielleicht dem Cut zum Opfer (Einsparung: 3,7 Millionen US-Dollar). Reicht es in der ersten Saison noch nicht zum Stammspieler, bleibt Lewis eine Investition in die Zukunft, denn sowohl Fluker als auch Iupati laufen auf Einjahresverträgen.

Für die Backups wie Jamarco Jones, Jordan Simmons und Phil Haynes führt der Weg in die Startformation wohl nur über Lewis. Und da alle drei ebenfalls Potenzial haben, scheint die Guard-Position erstmal versorgt zu sein. Anders sieht’s auf Tackle aus, wo die Seahawks mit Josh Jones einen Need bedienen hätten können. So aber muss sich unter den nun 19. O-Linern ein anderer Kandidat finden, der die Nachfolge von Germain Ifedi auf Right Tackle antritt.

4. Runde, Pick #133: Colby Parkinson, TE, Stanford

Ist nach Greg Olsen, Jacob Hollister, Luke Willson und Will Dissly der fünfte TE im Kader. +++ Könnte große Konkurrenz für Hollister und Willson sein. +++ Wurde am College eher als Passempfänger eingesetzt. +++ Litt 2019 unter schwachem Quarterback-Spiel in Stanford. +++ Hat extrem sichere Hände und gewinnt Luftduelle. +++ Könnte eine Redzone-Waffe für Russell Wilson werden. +++ Ein weiteres Anzeichen für mehr 12 Personnel in der kommenden Saison.

4. Runde, Pick #144: DeeJay Dallas, RB, Miami

Spielte am College 2018 gemeinsam mit Travis Homer. +++ Ist nicht der Schnellste und Physischste, hat aber einen ordentlichen ersten Cut. +++ Kann im Passspiel eingesetzt werden. +++ Kam am College als Running Back, Wide Receiver und Returner zum Einsatz. +++ Wurde ausgewählt, als der vermeintlich gute Running Back-Fit Eno Benjamin noch auf dem Board war. +++ Ist schwer festzuhalten und entwischt Gegenspielern gerne aus körperengen Tacklings. +++ Könnte der Ersatz für C.J. Prosise sein.

5. Runde, Pick #148: Alton Robinson, DE, Syracuse

Bringt die physischen Fertigkeiten mit. +++ Hat enormes Potenzial als Edge Rusher mit guter Körperbeherrschung. +++ Wurde wegen Diebstahl einer Geldbörse zu High-School-Zeiten angeklagt, nachdem er in einer Auseinandersetzung mit einer Freundin war. +++ Rutschte möglicherweise deswegen im Draft ab. +++ Die Anklage wurde später fallengelassen. +++ Verlor dennoch sein Stipendium für die Texas A&M University. +++ Arbeitete sich übers Junior College zurück an die Syracuse University und krempelte sein Leben um. +++ Sammelte 18 Sacks, 37 QB-Hits und 88 Hurries in 3 Jahren am College. +++ Zeigte sich im Pressegespräch nach dem Draft gereift.

6. Runde, Pick #214: Freddie Swain, WR, Florida

War am College Returner für Punts und Kicks. +++ Könnte diese Aufgabe auch in Seattle übernehmen und so Tyler Lockett entlasten. +++ Ist als Receiver im Slot zu Hause. +++ Receiver-Qualitäten alleine reichen wohl nicht, um es ins Team zu schaffen. +++ Braucht seine Return-Fähigkeiten, um im Kader zu bleiben. +++ Wird sich im Slot mit John Ursua duellieren.

7. Runde, Pick #251: Stephen Sullivan, TE, LSU

Wechselte am College oft zwischen Tight End und Wide Receiver. +++ Hat große Reichweite. +++ Schlief einst unter einer Brücke, nachdem seine Eltern von der Polizei verhaftet wurden. +++ Ist ein besserer Receiver als Blocker. +++ Kam bei LSU trotz Talent nie über die Backup-Rolle hinaus. +++ Bringt die perfekte Kombination aus Kraft, Geschwindigkeit und Größe mit, um eine vertikale Gefahr zu werden. +++ Fing in der besten Offensive des Landes 2019 keinen einzigen Touchdown.

 

Undrafted Free Agent Signings

Nach dem Draft ist vor der Verpflichtung von Undrafted Free Agents, die bei der Talentauswahl nicht berücksichtigt wurden. Die folgende Liste wird laufend aktualisiert. Sie enthält die Spieler, die Berichten zufolge bei den Seahawks unterschreiben und gemeinsam mit den acht Draft-Picks in Seattle vorspielen dürfen. Teams dürfen jedoch auf NFL-Anweisung hin nicht Stellung beziehen zu verpflichteten Undrafted Free Agents.

Anders als in den vergangenen Jahren geht es für Seattle im Moment nicht darum, Tryout-Spieler zu verpflichten, sondern direkt den Kader auf 90 Athleten aufzufüllen. Wegen der Pandemie findet das Rookie-Trainingslager nur virtuell statt. Zwölf Plätze sollten nach dem Draft jetzt noch offen sein.

Hier die Spieler, die mit den Seahawks in Verbindung gebracht werden:

  • Anthony Gordon, QB, Washington State
  • Eli Mencer, LB/DE, Albany
  • Anthony Jones, RB, Florida International
  • Marcus Webb, DT, Texas Tech
  • Chris Miller, S, Baylor
  • Seth Dawkins, WR, Louisville
  • Gavin Heslop, DB, Stony Brook
  • Tyler Mabry, TE, Maryland
  • Tommy Champion, OL, Missisippi State
  • Debione Renfro, DB, Texas A&M
  • Kemah Siverand, CB, Oklahoma State
  • Josh Avery, DT, Southeast Missouri State
  • Aaron Fuller, WR, Washington
  • Patrick Carr, RB, Houston Cougars
  • Josh Norwood, S, West Virginia
  • Dominick Wood-Anderson, TE, Tennessee

Stand: 30. April, 17:48 CEST