Warum Pete Carroll immer ein Gewinner bleiben wird

Pete Carroll Abschied

Foto: Alika Jenner/Getty Images

„There’s never enough wins“, sagte Pete Carroll, man kann nie genug gewinnen. Und sofort war da wieder dieses Glänzen in seinen Augen zu sehen, das wir in den 14 Jahren seiner Seahawks-Amtszeit so oft gesehen haben. Das Glänzen verwischte die letzten Spuren der Tränen, die Carroll wenige Minuten zuvor ins Gesicht geschossen waren, als er sich bei seinem Trainerstab, seinen Spielern und bei seiner Ehefrau Glena bedankte.

„Man kann nie genug gewinnen“ ist ein schöner und zugleich trauriger Satz. Er verkörpert das, wofür Pete Carroll steht. Zugleich wurde er dem Trainer wie so vielen vor ihm zum Verhängnis. Denn unterm Strich zählen im Sport Siege als Währung. Und wer sie nicht holt – weil seine taktischen Ansätze in die Jahre gekommen sind und die NFL sich weiterentwickelt hat –, der steht dann eines Tages an dem Punkt, an dem Carroll am Mittwochabend stand (komplette Pressekonferenz hier im Relive).

Die Seattle Seahawks haben sich im Einvernehmen von ihrem langjährigen Head Coach getrennt. Seine Rolle entwickelt sich weiter vom Head Coach zum Berater. Würdevoller lässt sich eine Entlassung nicht kommunizieren. Hinter diesen Worten verbirgt sich aber auch ein Kampf, den Carroll gekämpft hatte. Er wollte Cheftrainer bleiben, für die Jobs seiner Assistenztrainer kämpfen, zurück in die Erfolgsspur finden. Doch die Seahawks-Führungsetage um Besitzerin Jody Allen und ihren engen Berater Bert Kolde will nun einen neuen Weg einschlagen.

Pete Carroll siegt auch in der Niederlage

So hat Pete Carroll in diesem Moment eine seiner seltenen Niederlagen kassiert. Und faszinierenderweise auch aus dieser Niederlage noch einen Sieg gemacht. Weil er weiß, dass es niemals um seine Person geht, sondern immer ums Team. Sein langjähriger Weggefährte John Schneider wird der neue starke Mann in Seattle, so wie es zuvor Carroll war, „weil er so lange auf diese Chance gewartet hat und es verdient hat“. Schneider wird die Suche nach dem neuen Head Coach anführen, auch weil der alte Head Coach es sich so gewünscht hat.

Auch wenn er selbst es vielleicht anders sehen würde: Pete Carroll hat genug gewonnen. Ich könnte hier jetzt anfangen, Statistiken herunterzubeten. Aber darauf habe ich keine Lust. Andere, die mehr von Football verstehen, die tiefer drin sind, können das besser. Und schlussendlich sind die Erfolgsbilanzen auch nur ein Resultat dessen, was Carroll wirklich zum Gewinner gemacht hat.

Er hat Menschen für sich gewonnen.

Den straffällig gewordenen Running Back in Buffalo, der in eine Sackgasse geraten war. Den bitter enttäuschten, überehrgeizigen, smarten Wide Receiver, den im NFL Draft niemand auswählen wollte. Den viel zu kleinen Quarterback, dessen Ego am Ende etwas zu groß wurde. Den Cornerback mit Gardemaß, den ein anderer auf die falsche Position abgeschoben hatte. Den schüchternen Safety im Körper eines Linebackers.

2010 brachte Carroll sein Buch „Win forever“ heraus. Ich habe es gelesen und meinte, es verstanden zu haben. Aber ich glaube, dass ich erst seit Mittwochabend richtig begriffen habe, was der Trainer damit meint.

Pete Carroll hat bei den Seahawks eine Kultur aufgebaut („established a culture“), so beschreiben es viele, die mit ihm gearbeitet oder seinen Weg verfolgt haben. Aber das ist unpräzise und wenig greifbar, genau wie viele der Begriffe, die der Trainer in Seattle etabliert hat.

Für uns Außenstehende bleiben „Always compete“ (der permanente Konkurrenzkampf bis hin zu Basketball-Duellen im Meetingroom), ein an der Sideline und auf dem Trainingsplatz ekstatisch und Kaugummi kauend auf und ab springender Großvater sowie Kabinenansprachen mit euphorisch-brüchiger Stimme hängen. Ein 67-jähriger Trainer oben ohne. Ein Footballcoach, der in aller Deutlichkeit Rassismus anprangert und mit seinen Spielern zum Black-Lives-Matter-Protestmarsch aufbricht. Für die Menschen um Carroll bleibt: Dieser Mann meint es ernst. Dieser Mann lebt seinen Job. Dieser Mann interessiert sich für uns und unsere Probleme.

Pete Carroll: echt authentisch

Carroll hat es wie kein Zweiter verstanden, das oft rücksichtslose, kalte, harte Business Football menschlich zu gestalten. Damit konnte er manchmal – später immer seltener – taktische Defizite ausgleichen. Er hat große Erfüllung darin empfunden, seinen Mitmenschen zum Erfolg zu verhelfen, sie anzufeuern, für sie da zu sein – und dabei nie vergessen, dass er mit Menschen arbeitet, nicht mit Maschinen. Er hat jungen Leuten geholfen, erwachsen zu werden und Ziellose dabei unterstützt, sich Ziele zu setzen. Er hat Suchenden geholfen, sich und ihren Weg zu finden.

Nichts illustriert das so sehr wie die vielen Dankesworte, die Pete Carroll seit Bekanntwerden seines Abschieds erhalten hat. Jimmy Graham, der erzählt, wie Carroll ihn nachts um 3 nach seinem Patellasehnenriss vor dem Krankenhaus in den Arm nahm. Doug Baldwin, der von seinem Trainer nicht nur als Footballer, sondern fürs Leben gelernt hat. Richard Sherman, der Carroll seit der Highschool an seiner Seite wusste. Der unerfahrene Reporter, der mit einem beeindruckten erfahrenen Coach über Defensiv-Philosophien fachsimpeln durfte.

Sie alle haben ihre ganz persönliche Pete-Carroll-Geschichte. Wir alle haben unsere (– und wenn sie noch so belanglos ist).

Natürlich, diesen Absatz kann ich mir nicht verkneifen, hat auch Pete Carroll auf seinem Weg Gefährten verloren. Earl Thomas. Nach 2015 ein bisschen auch die Veterans der Legion of Boom. Mich etwas, als er entgegen seiner eigenen Philosophie Colin Kaepernick nie eine Chance gab. Zum Ende hin Russell Wilson. Immer wieder einige Fans, wenn er nach einem knappen Sieg fragte, ob man ein Spiel im ersten (nope), zweiten (auch nich), dritten (neihein), vierten Quarter (yuuup!) gewinnen könne.

Aber, und das wiegt viel schwerer: Er hat sich immer bedingungslos vor seine Spieler und Trainer gestellt. Schmerzhaftestes Beispiel: Carrolls „schlechtester Call meines Lebens“, der den Seahawks die schon sicher geglaubte Titelverteidigung im Super Bowl XLIX entriss. Er hätte seinen Offensive Coordinator Darrell Bevell (für den Spielzug), seinen Quarterback Russell Wilson (für den unpräzisen Pass), seinen Receiver Jermaine Kearse (für den schwachen Block) und seinen Receiver Ricardo Lockette (für den verpassten Catch) öffentlich kritisieren können. Er nahm die Schuld auf sich.

Pete Carroll hat uns alle in den vergangenen 14 Jahren geprägt. Wir, die wir in einer Welt der Selbstoptimierung und Verurteilung permanent auf der Suche nach Vorbildern sind. Hätte ich Kinder, würde ich ihnen neben die Poster der Fußball- und Popstars ein Bild von einem 72 Jahre jungen, nimmermüden Trainer an die Wand pinnen.

Gäbe es eine Hall of Fame für Menschen – Pete Carroll hätte ziemlich gute Chancen, dort zu landen.