Kopfsache: Russell Wilson

Russell Wilson hat in seiner NFL-Karriere 125 Spiele (Regular Season und Playoffs) absolviert. Das ist an sich schon besonders, weil es 125 von 125 möglichen Spielen sind, also das Maximum. Verletzungen – ob der Öffentlichkeit bekannt oder verheimlicht – hielten den Quarterback der Seattle Seahawks nie davon ab, aufs Spielfeld zu gehen.

Als Wilson noch Quarterback für das College-Team der North Carolina State University war, hatte er nicht immer so viel Glück. Am 28. August 2008 kassierte der Spielmacher einen heftigen Hit gegen den Kopf, blieb minutenlang am Boden liegen und wurde schließlich auf einer Bahre liegend vom Feld und direkt ins Krankenhaus gefahren. Den heroischen und fast schon obligatorischen „Keine-Sorge-mir-geht-es-gut“-Daumen konnte Wilson nur wenig sichtbar nach oben strecken, weil er auf der Trage so fixiert war, dass er sich kaum bewegen konnte.

Wir Fans klammern uns in solchen Momenten, in denen wir die Brutalität dieses Sports nicht verdrängen können, an Gesten fest. Das war so, als Ricardo Lockette im November 2015 derart niedergestreckt wurde, dass sein Leben an ein paar instabilen Halswirbeln hing. Das war so, als Tyler Lockett an Heiligabend 2016 in der Endzone lag und sein Bein nicht mehr so aussah wie ein Bein.

Wilson war nach dem Knockout im College-Spiel zwei Wochen später wieder im Einsatz.

In der NFL fehlte Wilson nie, auch wenn es in seiner Profikarriere Momente gab, in denen er möglicherweise nicht sofort aufs Spielfeld hätte zurückkehren sollen. Das ist spekulativ, doch der Blick auf einzelne Ereignisse lohnt sich. Anfang 2015 und Anfang 2016, jeweils in den Playoffs, wo jedes Spiel das letzte sein kann, wurde Wilson so getackled, dass sein Kopf erschüttert wurde, dass er hart auf den Boden krachte. (GIF lädt langsam.) 2017 war Wilson der Quarterback, der in der NFL mit Abstand am häufigsten zu Boden geworfen wurde (139 Mal; Kizer 118, Brissett 116, Cousins 104, Ryan 100).

Russell Wilson verpasste nach diesem Hit von Clay Matthews keinen Snap. Ob das sinnvoll war, darüber lässt sich wohl streiten. Der Blick in sein Gesicht direkt nach der Aktion lässt vermuten, dass es ihm nicht gut geht. Der Blick auf den Spielverlauf zeigt, dass Wilson anschließend noch zwei Interceptions wirft (an denen er nicht alleine Schuld trägt). Der Blick aufs Ergebnis bescheinigt, dass er sein Team am Ende auf wundersame Weise zum Sieg führte.

Matthews wurde später von der NFL bestraft, weil er Wilson von außerhalb dessen Sichtfeldes attackierte. Wilson erzählte später, ein Wunderwasser habe ihn nach dem Spiel vor der Gehirnerschütterung bewahrt.

100.000 US-Dollar Strafe mussten die Seattle Seahawks an die NFL bezahlen, weil sie beim Spiel gegen die Arizona Cardinals am 9. November 2017 das Concussion Protocol nicht befolgten. Was war passiert?

Nach einem schweren Hit gegen Russell Wilson – ein Treffer am Kinn im dritten Quarter, hatte der zuständige Schiedsrichter Walt Anderson angeordnet, dass der Quarterback sich einem Gesundheitscheck unterziehen müsse. Wilson verließ zwar für ein Play das Spielfeld, kehrte jedoch dann zurück, ohne von den Teamärzten im schicken blauen Zelt gecheckt worden zu sein.

Zusätzlich zur Geldstrafe muss das medizinische Personal der Seahawks eine Nachschulung in Sachen Concussion Protocol besuchen.

Die Verantwortlichen in Seattle akzeptierten die Strafe, betonten jedoch, dass niemand die Absicht gehabt habe, das Protokoll zu umgehen.

Und wer trägt daran jetzt die Schuld?

Ein Blick auf die Zahlen, die öffentlich einsehbar sind und auf Daten der NFL basieren. Registriert sind hier natürlich nur die Gehirnerschütterungen, die auch gemeldet wurden. Es ist nicht auszuschließen, dass Spieler wegen Erfolgsdruck, Konkurrenzkampf und Überehrgeiz Kopfverletzungen verheimlichen.

291 Gehirnerschütterungen wurden in der NFL in der Saison 2017 in Training und Spielen festgestellt. 91 davon, deutlich mehr als in den Jahren zuvor, wurden in der Preseason festgestellt, wo Spieler um Jobs kämpften. Insgesamt wurden 2017 rund 15 Prozent mehr Gehirnerschütterungen registriert als im Fünfjahresschnitt. Das könnte mit strikteren Vorgaben durch das Concussion Protocoll und die unabhängigen Gutachter der NFL zusammenhängen. Und damit, dass bei den Spielern das Bewusstsein für die Risiken ihrer Sportart wächst. 50 Gehirnerschütterungen, also rund ein Sechstel, wurden von den Footballern selbst an ihre medizinischen Betreuer gemeldet.

In der NFL lagen die Seattle Seahawks zwischen 2013 und 2015 bei der Anzahl der gemeldeten Gehirnerschütterungen mit 8,3 unter dem Liga-Durchschnitt (9,5). Das dürfte auch dem im „Hawk Tackling“ gelehrten Ansatz zu verdanken sein, hängt aber wohl auch immer davon ab, wie im jeweiligen Team das Spannungsfeld aus verschiedenen Interessen geregelt wird.

Für den Mannschaftsarzt hat die Gesundheit des Spielers oberste Priorität. Für den Trainer spielt die Leistung eine wichtige Rolle für das übergeordnete Ziel Erfolg. Für den Spieler zählt natürlich der Gehaltsscheck. Und für die Fans?

Was können Fans in diesem Zusammenhang tun? Beim Fantasy Football die reelle Gesundheit des Spielers den eigenen virtuellen Interessen überordnen. Und, so blöd es vielleicht klingt: sich darüber freuen, wenn ein Spieler sich im Verletzungsfall bewusst fürs Pausieren und ein tendenziell beschwerdefreieres Leben nach der Karriere entscheidet.

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