Fischadleraugen: Schotty to Hotty

Schotty

Brian Schottenheimer (Foto: imago)

Die Saison 2019 ist so gut wie vorbei. Neben dem bedeutungslosen Pro Bowl findet nur noch der ein kleines bisschen wichtigere Super Bowl statt – leider ohne Beteiligung der Seattle Seahawks. Wir lassen die Saison mit dem ein oder anderen Spielzug des Teams aus dem Pacific Northwest Revue passieren – inklusive Videomaterial und Erklärung dazu. Den Start macht heute die von Offensive Coordinator Brian „Schotty“ Schottenheimer (in Teilen) geführte Angriffsabteilung, bevor es kommende Woche auf der anderen Seite des Balles um die leider unterdurchschnittlichen Defense der Seahawks geht.

Beginnen wir mit einem der fulminanten Plays von Quarterback Russell Wilson aus der ersten Saisonhälfte, in der er Favorit auf den MVP-Titel war. Die Pass Protection macht in diesem Spielzug keine gute Figur: Running Back Chris Carson versucht, den Druck aufzunehmen, wählt dafür aber den falschen Gegenspieler. Right Guard D.J. Fluker blockt den selben Spieler wie Carson. Dadurch kommt ein freier Rusher zu Wilson durch. Auch, weil Center Justin Britt einen Defensive Tackle der Cleveland Browns doppelt. Hier passt die Abstimmung in der Angriffslinie überhaupt nicht. Wilson bleibt bis zum letzten Moment stehen, wohlwissend dass es in wenigen Momenten bei ihm einschlagen wird, und vollendet noch einen unglaublichen Pass auf Jaron Brown, der beide Füße ins Feld bekommt und den Touchdown vollendet.

Eine der Disziplinen, in denen Offense Coordinator Brian Schottenheimer immer wieder einen guten Job macht, sind die Play Calls und Spielzug-Designs in der Redzone. Natürlich kommt ihm dabei entgegen, dass er einen Quarterback hat, der seine Ideen umsetzen kann.

Im Spiel gegen die Tampa Bay Buccaneers, das die Seahawks in einem Overtime-Thriller gewannen, legte  das Team aus Seattle folgendes Play auf: 11-Personnel – heißt ein Running Back im Backfield und auf der rechten Seite ein Tight End. Die Seahawks agieren hier in einem Drei-Wide-Receiver-Set. Tyler Lockett startet aus dem Slot eine Route nach außen. David Moore und DK Metcalf ziehen von den beiden äußeren Positionen nach innen, binden damit die Verteidiger der Buccaneers. Man spricht hier von einem Spielzug, der drei verschiedene Crossing-Routes beinhaltet und damit den Verteidigern das Leben schwer macht. Wilson wirft in die hintere linke Ecke der Endzone. Der Ball ist so platziert, dass nur Lockett – trotz geringer Körpergröße – ihn erreichen und fangen kann. Touchdown. Eine erstklassige Spielzug-Auswahl mit exzellenter Ausführung.

Die Wilson-Lockett-Connection wurde und wird zurecht sehr oft besprochen und beleuchtet. Doch Russell Wilson hat mittlerweile eine weitere Waffe in seiner Offensive. Die Rede ist von Rookie DK Metcalf. Metcalf übertraf alle Erwartungen und war in Verbindung mit Wilson, der seine Stärken bei langen Würfen ausspielte, ein perfekter Fit fürs Angriffsspiel der Seahawks. In diesem Spielzug läuft Metcalf keine besondere Route. Eigentlich läuft er nur geradeaus. Wenn man genau hinschaut, sind aber zwei Richtungswechsel in seinem Laufweg zu erkennen. Metcalf spielt hier seine Schnelligkeit aus – und das bei einer Körpergröße von 1,93 Metern.

Die Seahawks werfen einen tiefen Ball aus einem Play-Action-Spielzug heraus, gehen vor dem Snap in Motion. Alles Dinge, die zu einer modernen Offense gehören und dementsprechend häufig eingesetzt werden sollten, um die Gegenseite vor Herausforderungen zu stellen. Damit entblößt Seattle die Rams-Defense, die zuerst auf den Lauf reagieren muss und anschließend keine Safety-Hilfe im Eins-gegen-Eins gegen Metcalf bereitstellen kann. Dieser läuft seinem Gegenspieler ohne Probleme davon. Das Resultat ist ein Touchdown – bei dieser Wilson-Metcalf-Connection keine Überraschung.

Hier läuft Metcalf eine einfache Slant-Route. Das ist immerhin schon mal eine Routen-Variation mehr, als die größten Kritiker dem Rookie vor der Saison zugetraut hatten. Hat Metcalf einmal den Ball gefangen und Geschwindigkeit aufgenommen, werden die Verteidiger vor das nächste Problem gestellt: Metcalf zu stoppen und die Yards nach dem Fang zu limitieren. Bekommt er weiterhin Bälle, wird er schon allein deshalb weiterhin ein Matchup-Problem für die Verteidigungsreihen der NFL bleiben.

Ein Spielzug, der das Herz eines jeden Analytics-Anhängers höher schlagen lässt. Die Seahawks spielen, zugegeben gezwungenermaßen, einen vierten Versuch aus. Dabei nutzen sie: Bewegung vor dem Snap, Play Action und dann auch noch keinen Lauf! Nein, die Seahawks tun das Unfassbare, passen tatsächlich auf Lockett und konvertieren zum neuen ersten Versuch. Lockett läuft dabei ähnlich wie bei einem Sweep am Quarterback vorbei, die Ballübergabe wird vorgetäuscht. Danach täuscht Wilson die Ballübergabe auf Running Back Marshawn Lynch an. Lockett kann seinen Geschwindigkeitsvorteil nutzen, nach Wilsons zweitem Fake den kurzen Pass fangen und dabei fast noch einen Touchdown erzielen.

Das Personal ist da, die Spielzug-Designs sind da. Es ist nicht wichtig, jeden einzelnen vierten Versuch auszuspielen und zu konvertieren, sonder situationsabhängig zu entscheiden. Warum es aber bei den Seahawks nicht häufiger passiert, darf zurecht in Frage gestellt wird.

Stichwort Play Calling – die Seahawks laufen hier wieder einmal völlig ideenlos in die Box des Gegners. Wir sehen ein Beispiel aus der Divisional Round bei den Green Bay Packers. Das Lauf-Blocking war über die gesamte Saison kein besonders gutes und nach dem Ausfall von Stammspieler Chris Carson fehlte auch Seattles bester Running Back, wenn es um Yards nach dem Kontakt und gebrochene Tackles geht. Dass man die Arbeitslast dann auf so unkreative Weise einem – in allen Ehren – Football-Oldie aufbürdet, der gerade aus dem Ruhestand zurückgekehrt ist, grenzt an Absurdität.

Dass es den Seahawks im Kader an Talent fehlt, fiel in der Saison 2019 immer wieder auf. Im Hinblick auf den bevorstehenden Draft sollte Seattle ernsthaft die Auswahl eines weiteren Wide Receivers aus der tief besetzten Draft-Klasse in Betracht ziehen. Dieser einfache Drop von Malik Turner kostete die Seahawks am Ende den Drive, der zur späten Wende hätte führen können. Mit Lockett und Metcalf haben die Seahawks zwei sehr gute Wide Receiver, doch eine verlässliche dritte Option würde der Offensive neue Möglichkeiten geben. Dass der Bedarf für einen guten dritten Mann da ist, zeigt die Aufstellung der Seahawks, die bei 74 Prozent ihrer Passspielzüge aus dem 11-Personnel agierten (1 Running Back, 1 Tight End, 3 Wide Receiver).

Spielzug des Jahres

Ihren wohl schönsten Touchdown des Jahres erzielten die Seahawks im NFC-West-Duell gegen die Los Angeles Rams – vor den Augen von über 30 angereisten German Sea Hawkers. Tyler Lockett läuft aus dem Slot eine Route auf die andere Seite des Spielfelds. Russell Wilson bekommt Druck und zieht das Play künstlich in die Länge, indem er auf die linke Seite ausweicht. Er verdreht dann seinen Oberkörper und wirft entgegen der natürlichen Bewegung. Was dann passiert, ist Football-Kunst. Wie die fantastische Primaballerina Lockett in diesem Moment noch beide Füße in die Endzone bekommt, wird für immer ihr Geheimnis bleiben.