Nachgehawkt: Eat, sleep, rePete

Nachgehawkt Maximilian Länge

Mein Plan war, kurz nach Saisonende bei den Seattle Seahawks nochmals einen Mailbag-Beitrag zu verfassen. Ich hatte natürlich gehofft, diesen im Februar nach meiner Rückkehr aus Florida schreiben zu können, wo Russell Wilson gerade als Super-Bowl-MVP die Vince Lombardi Trophy in Richtung seines Vaters nach oben gestreckt hat. Doch weil beschriebenes Szenario nur in meiner Fantasie existiert und Wilson in dieser Saison in Florida höchstens wertvollster Spieler des wertlosen Pro-Bowl-Spektakels wird, gibt’s die letzte Nachgehawkt-Ausgabe der Saison schon im Januar.

In der Rubrik „Nachgehawkt“ beantworten Autoren der German Sea Hawkers e.V. in unregelmäßigen Abständen Fragen rund um die Seahawks, die besten Aussichtspunkte in Seattle, wilde Gerüchte, gutes Essen aus dem Pacific Northwest und Pete Carrolls Lieblingskaugummi, die auf Twitter oder in anderen Social-Media-Kanälen gestellt wurden.

@BigAdler3003 fragt, welchen Trainer ich entlassen würde, wenn ich einen entlassen müsste.

Ich nutze diese Frage einfach mal ganz frech aus, um viele meiner Gedanken zur Trainerfrage loszuwerden. Es war mir wichtig, eine Woche vergehen zu lassen, ehe ich mich mit diesem Thema ausführlich schriftlich auseinandersetze. Ich wollte mich in meinem Text nicht von rohen Emotionen leiten lassen. Und ich wollte beobachten, wie Fans und Journalisten reagieren in der Trainerdebatte.

Die Woche nach der Niederlage gegen die Green Bay Packers in der Divisional Round der Playoffs hat viele spannende Texte hervorgebracht. Da ist dieses Stück von Ben Baldwin auf The Athletic (€) und die darauf folgende Reaktion von Mike Shawn-Dugar (€). Da ist der Newsletter von Kenneth Arthur von Field Gulls (Abo-Empfehlung). Da ist die Kolumne von Larry Stone in der Seattle Times. Da ist dieser Überblick von Spox zu Pete Carroll und den Seattle Seahawks. Und da ist das Exit Interview von Danny Kelly für The Ringer.

Ich habe sie alle mit Freude gelesen. Deshalb ist meine Antwort auf die obige Frage nicht nur ausschließlich meine Meinung, sondern auch der Versuch, an anderer Stelle Geschriebenes mit einzubeziehen und einzuordnen.

Vielleicht räumen wir zu Beginn die drängendste Frage direkt aus dem Weg: Sollten die Seahawks sich nach einem neuen Cheftrainer umsehen, der maximal auf die aktuell wichtigste Kompetenz des Teams (Quarterback Russell Wilson!) setzt, anstatt an alten Ansichten basierend auf einstigen Stärken festzuhalten? Vermutlich sollten sie das, wenn sie keine Angst vor den Risiken eines Trainerwechsels haben und in naher Zukunft in die unmittelbare Nähe eines zweiten Super-Bowl-Rings kommen wollen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass Pete Carroll sich von ganz alleine nach zehn Spielzeiten plötzlich ändert und zeitgemäßen Football spielen lässt, strebt gegen null.

Aber wird der Trainerwechsel kommen? Wohl kaum, denn auch hier strebt die Wahrscheinlichkeit gegen null. Den entscheidenden Impuls zur Entlassung müsste Teambesitzerin Jody Allen geben. Wir erinnern uns alle, dass General Manager John Schneider 2010 von Carroll, dem Executive Vice President of Football Operations, eingestellt wurde und ihm bis heute unterstellt ist. Schneider, dem man diesen Schritt in eine ungewisse Zukunft eventuell zutrauen würde, fehlt also schlicht die Befugnis. Und wieso sollte Entscheidungsträgerin Allen nach einer Saison, die bis in die Divisional Round der Playoffs andauerte, ihren Cheftrainer absägen.

Zwei Dinge könnten (frühestens nach der nächsten Saison) zu einem Ende der Beziehung zwischen Carroll und den Seahawks führen: Eine miserable 3-13-Bilanz mit einem gesunden Russell Wilson (fiele der aus, wäre das wohl Entschuldigung genug) oder Carrolls eigene Entscheidung, frühzeitig Schluss zu machen. Sein Vertrag läuft bis Ende der Saison 2021, er ist dann 70 Jahre alt.

Ich möchte die obige Frage aus zwei Gründen nicht mit Pete Carroll beantworten. 1) Seine Entlassung ist nicht realistisch, nachdem das Team in den vergangenen zwei Jahren jeweils die Erwartungen übertroffen hat. Diese Forderung bringt uns in der Diskussion deshalb auch nicht weiter. Ich werde weiter unten einen anderen Trainer vorschlagen, der aus meiner Sicht ausgetauscht werden könnte. 2) Auch wenn Carroll zur Unzufriedenheit vieler Fans immer noch so coacht, als hätte sein Team eine überragende Defensive und einen durchschnittlichen Quarterback (es ist inzwischen tatsächlich genau andersherum), glaube ich nicht, dass der Weg zum Super Bowl mit einem Wechsel des Cheftrainers und der Philosophie vorprogrammiert wäre. Es heißt bei Kritikern immer so schön, dass mit einem Spielmacher wie Russell Wilson der Super Bowl jedes Jahr der Anspruch sein muss. Das ist okay. Die Realität zeigt aber, dass es sogar mit einem Elite-Quarterback verdammt schwierig ist, ständig die Playoffs zu erreichen (außer man spaziert Jahr für Jahr durch die eigene Division zu Heimvorteil und First-Round Bye, weil die Konkurrenz es nicht auf die Reihe bekommt). Andere Quarterbacks in Wilsons Sphären haben oftmals schlechtere Bilanzen, wenn es ums Erreichen der Playoffs oder gar Playoff-Siege geht. Drew Brees hat einen Titel gewonnen, Aaron Rodgers ebenfalls. Lamar Jackson und Patrick Mahomes – darüber können wir dann in zehn Jahren streiten – werden höchstwahrscheinlich auch nicht jede Runde die Postseason erreichen. Heißt das, ihre Blütezeit wurde verschwendet? Heißt das, Russell Wilson ist konstant besser als sie alle? Oder zeigt es einfach, dass Pete Carroll wie jeder andere Cheftrainer irgendwo einen Einfluss auf den Erfolg der Seahawks hat. Und dass generell Erfolg in der NFL nicht so planbar ist, wie viele sich das vorstellen, weil mehr als zwei Teams mit Elite-Quarterbacks Anspruch auf den Super Bowl haben?

Weil Carroll also für mich nach dieser Saison kein klarer Streichkandidat ist, führt mich das nun zu der Frage, wie sich die Seahawks in den kommenden Jahren am besten aufstellen sollten, um weitere Playoff-Teilnahmen und damit verbunden einen zweiten Super-Bowl-Titel anzuvisieren. Auch, wenn so spät in seiner Karriere wenig Hoffnung besteht – das sind die Dinge, in denen Carroll dringend besser werden muss:

  • „Let Russ cook“ heißt es unter Seahawks-Fans auf Twitter so schön. Carroll muss seinem Vorzeige-Quarterback das Spiel in die Hand geben und zu 100 Prozent auf dessen Genialität vertrauen. Das betrifft in besonderem Maße die Entscheidungsfindung in kniffligen Situationen, beispielsweise bei Fourth Down (weniger konservativ, weniger auf Feldposition fokussiert). Und das verhindert, dass Seattle die erste Halbzeit – so wie auch in dieser Saison mehrfach geschehen – immer wieder komplett verpennt.
  • Das miserable Zeitmanagement muss besser werden. Dazu gehört es, Timeouts wegen allgemeiner Verwirrung zu vermeiden. Dazu gehört es, dem eigenen Team ein Dringlichkeitsbewusstsein einzuschärfen, wenn der Rückstand groß oder die Zeit knapp ist.
  • Die Free Agency und der Draft müssen unbedingt sitzen in diesem Jahr. Die Seahawks verkraften nach Ezekiel Ansah keinen weiteren angeschlagenen Acht-Millionen-Verteidiger, der dem Team kaum weiterhilft, und nach Malik McDowell und L.J. Collier keinen dritten D-Liner aus der 1. oder 2. Runde, der dem Team nicht direkt weiterhelfen kann. Das gilt für Carroll wie für John Schneider. Talent und Kadertiefe sind Baustellen bei den Seahawks. Größer als jede Trainerdebatte. O-Line, Cornerback, Tight End, D-Line – überall sind Nachbesserungen nötig.

Wer kann ein Umdenken Carrolls herbeiführen? Von alleine wird er nicht auf den Gedanken kommen, von seiner Philosophie abzuweichen. Auftritte wie die der Tennessee Titans in den gesamten Playoffs oder der San Francisco 49ers im NFC Championship Game werden den Seahawks-Cheftrainer in seiner Annahme bestätigen, dass er den vermeintlich richtigen Weg geht.

Laut Michael Shawn-Dugar von The Athletic gibt es bei den Seahawks Personen, auf die Carroll hört. Sie haben sich wohl nach dem Playoff-Aus in der Saison 2018 nicht getraut, ihrem Chef ins Gewissen zu reden. Vielleicht bewirkt das erneute Ausscheiden auf ähnliche Art und Weise, dass diese ominösen Carroll-Vertrauten nun endlich den Mund aufmachen. Sollte der Sinneswandel aber weiter ausbleiben, hilft vielleicht neben der Akzeptanz, dass die Seahawks vom Super Bowl mehr als nur einen Trainer- und Strategiewechsel entfernt sind, vorerst nur die Stärkung der alten Tugenden.

Eine leidige Nebendiskussion bei der Trainerfrage ist die über Carrolls Einfluss auf seine Koordinatoren. Ist es Carroll, der seinem Team den Laufspiel-Fokus verordnet oder Offensive Coordinator Brian Schottenheimer? Ist es Carroll, der auf die Base-Formation in der Defense drängt oder Defensive Coordinator Ken Norton Jr.? Niemand von uns weiß, wie viel Schottenheimer-Geist in der Offensive steckt und wie viel Norton-Denkart in der Defensive. Was wir wissen: Russell Wilson ist unter seinem zweiten Offensive Coordinator ein noch besserer Tiefpasser geworden. Die von Schottenheimer entwickelten Spielzüge haben sein Spiel auf ein neues Niveau gehoben. Was wir auch wissen: Die Defensive ist unter Norton  2018 und 2019 drastisch abgesackt und zählt in vielen Kategorien zu den schwächsten Gruppen der Liga, was sicher auch mit der Trennung von Earl Thomas, Richard Sherman und Michael Bennett zusammenhängt.

Dass die Seahawks gerade defensiv im Vergleich zur vergangenen Saison keinen Entwicklungsschritt gemacht haben, gibt zu denken und bringt mich zurück zum Gedankengang von der Stärkung der alten Tugenden. Mit dem großen Spielraum unter der Gehaltsobergrenze und mit einem neuen Defensive Coordinator ist hier meiner Meinung nach eher eine Verbesserung erreichbar als mit einem neuen Offensive Coordinator (der aktuelle steht bei mir nicht zur Debatte und hat eine Chance verdient, die Offensive komplett alleine zu gestalten).

In meinem Wunschszenario widmet sich der Defensiv-Spezialist Pete Carroll gemeinsam mit einem weniger mächtigen Defensive Coordinator der Verteidigung, während Brian Schottenheimer die volle Kontrolle über die Offensive bekommt. Ganz ohne Einfluss von Carroll. Ob dieses Szenario so eintreten wird, obwohl bislang keine personellen Veränderungen angekündigt wurden? Kaum. Mein Ansatz wäre es trotzdem.

Am Ende muss sich jeder Fan selbst eine Meinung bilden. Alle oben verlinkten Artikel haben mir dabei geholfen – ich empfehle sie deshalb besten Gewissens weiter. Wenn daraus eine gesittete Diskussion entsteht, bewirkt diese vielleicht am Ende sogar etwas. Ich jedenfalls bin jetzt froh, dass ich einen Text zur Trainerfrage geschrieben habe, der ausgelutschte Argumente wie die Verletztenmisere, das Glück, die bitterbösen Analytics-Nerds und die neunmalklugen Sofa-Cheftrainer sowie die Seahawks-Teamkultur nicht beinhaltet und gleichzeitig Ben Baldwins „schlechte Argumente“ außen vor lässt. Damit bin ich hoffentlich ein paar Standard-Vorwürfen, die mich bei manchen Fans zu einem „Carroll-Apologeten“ machen würden, mehr oder weniger raffiniert ausgewichen.

@patrick_ka_gsh fragt: „Meinst Du, dass der Trainerstab und dessen Spielidee auch im Football einen großen Einfluss darauf hat, dass Spieler bei der jeweiligen Franchise verlängern oder eben nicht? Thema Frustration über das Coaching, verpasste Möglichkeiten,… Oder steht hier eher das Geld über Allem?“

Ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte, dass die Trainer im Dreieck aus Gehalt, Erfolgschancen und Spielidee/Trainerstab die geringste Rolle spielen. Das klingt irgendwie verrückt, wenn man Seattles zwei wichtigste Neuzugänge 2019, Free Safety Quandre Diggs und Defensive End Jadeveon Clowney, von der Seahawks-Teamkultur unter Head Coach Pete Carroll auf dem Trainingsgelände direkt am Lake Washington schwärmen hört, die sich so krass von der an anderen NFL-Standorten unterscheiden soll.

Zwischen den Zeilen habe ich bei Spielerzitaten schon öfter gelesen, dass der Umgangston beispielsweise bei den New England Patriots ein rauher sein soll. Das hielt aber kaum einen Spieler davon ab, sein Glück beim alljährlichen Mitfavoriten zu versuchen. Demnach stehen für die Spieler auch die Erfolgschancen über der Kompatibilität mit dem Trainerstab und seiner Spielidee. Eine andere Sache wäre es natürlich, wenn ein Team einen Trade erwägt, weil der Spieler überhaupt nicht oder ausgezeichnet ins System passen könnte.

Ich kann mir vorstellen, dass jemand wie Jadeveon Clowney für verbesserte Titelchancen eventuell auf ein wenig Gehalt verzichten würde, weil er in seiner Karriere bereits rund 50 Millionen US-Dollar verdient hat. Aber dann ist wiederum die Frage, wo in der auf Ausgeglichenheit ausgelegten NFL es die Garantie auf die Playoffs und gute Aussichten auf die Super-Bowl-Teilnahme gibt. Groß wird das Entgegenkommen Clowneys bei Gehaltsverhandlungen mit Titelkandidaten nicht sein. Man erinnere sich nur an den Zwist, der Ende August 2019 zur Trennung von den Houston Texans geführt hatte. Der Edge Rusher wollte nicht unter dem Franchise Tag spielen und streikte deswegen. Vielleicht ist mir da etwas entgangen, aber ich habe noch nie einen Spieler wegen miesen Coachings oder schlechten Erfolgsaussichten streiken sehen.

In einem Spiel, in dem man mit seiner Gesundheit bezahlt, geht es den meisten Profis am Ende immer noch darum, finanziell abgesichert zu sein und so viel Gehalt abzugreifen wie möglich. Ich halte das für legitim in einer Liga, die im Geld schwimmt und laut Spielergewerkschaft immer noch weniger als die Hälfte davon an ihre Hauptakteure abgibt.

In der NBA gibt es seit ein paar Jahren den Trend, dass sich Superstars in Teams zusammenschließen und auf Spitzengehälter verzichten, um ihre Aussichten auf eine Meisterschaft zu verbessern. Dort spielt dann wohl der Faktor Titelchancen die wichtigste Rolle, wobei auch dieses Umdenken erst nach ein paar Jahren in der Liga und Millionen auf dem Konto stattfindet. Ich denke, das hängt auch mit den gesundheitlichen Risiken zusammen, die im Basketball geringer sind als im American Football. Spieler, die dem Gehaltsgefüge zuliebe auf Gehalt verzichten, sind in der NFL eine Seltenheit.

Was das für Seattle in Bezug auf Jadeveon Clowney heißt? Einen großen Rabatt wird er den Seahawks wohl kaum geben, weil es ihm so gut gefallen hat im Pacific Northwest. Aber hat General Manager John Schneider am Ende der Verhandlungen die Möglichkeit, das Angebot eines anderen Teams zu matchen oder sich diesem anzunähern, dann erinnert sich Clowney vielleicht an das traumhaft gelegene Virginia Mason Athletic Center in Renton und den Players‘ Coach Pete Carroll.

@BigAdler3003 will wissen, welcher Spieler mich 2019 am meisten überrascht beziehungsweise enttäuscht hat.

Am liebsten würde ich hier gerne mehrere Spieler nennen, die mich positiv überrascht oder enttäuscht haben. Aber da jeweils nur ein Kandidat gefragt ist, habe ich mich in Bezug auf die Überraschung für Cornerback Shaquill Griffin entschieden und bezüglich der Enttäuschung für Defensive End Ezekiel Ansah.

Griffin erhält bei mir den Vorzug vor dem sensationellen Rookie-Wide-Receiver DK Metcalf und dem immer wieder aufs Neue faszinierenden Franchise-Quarterback Russell Wilson. Mich hat beeindruckt, wie er nach einer extrem schwachen zweiten Saison in der NFL seine Schwächen selbst erkannt hat (Gewicht, taktisches Verständnis, Fokus), in der Offseason an sich gearbeitet hat und so zu einem Top-Cornerback der Liga gereift ist. Die nachträgliche Pro-Bowl-Berufung ist die verdiente Belohnung.

2018 war kein einfaches Jahr für Griffin. Nach vielversprechender Rookie-Saison musste er als Nummer-eins-Cornerback auf die linke (ehemalige Richard-Sherman-)Seite wechseln. Die Fußstapfen waren riesig, Griffin war gerade erst wiedervereint mit seinem Bruder Shaquem, der Secondary fehlte ein echter Führungsspieler und dann war da noch die Sache mit dem Körpergewicht. Der Mix aus diesen Faktoren sorgte für ein bisschen zu viel Ablenkung von der eigentlichen Aufgabe.

Doch Griffin ging die Probleme in der Offseason an. Im Profifootball-Zusammenleben mit dem Bruder kam die Routine (die auch Shaquem sichtlich guttat). Ernährungsberatung und ausgewogene Küche sorgten dafür, dass Griffin wieder auf sein Idealgewicht aus der Rookie-Saison kam (89 Kilogramm; 2018 war er bei 96) und die Dynamik zurückkehrte. Für den Führungsspieler-Aspekt sorgte er teils sogar selbst, indem er den Mentor für Tre Flowers machte. Und generell reifte er in seinem dritten NFL-Jahr zum Anführer, der auf einen verteidigten Pass auch mal mit frechen Gesten wie ein Richard Sherman reagierte oder sein Team vor versammelter Journalistenschar in die Pflicht nahm.

Die Entwicklung erscheint nachhaltig. Ich sehe keine Gefahr, dass Griffin 2020 schlechter spielen wird als 2019. Es geht für ihn dann nämlich auch um den zweiten Vertrag und den großen Zahltag. Der dürfte aber nur noch eine Frage der Zeit sein.

In einer Reihe von Enttäuschungen war für mich Ziggy Ansah die größte. Er steht auf meiner Liste noch schlechter da als Rookie L.J. Collier (Draft-Flops in den frühen Runden werden langsam leider ein wenig zur Gewohnheit) und Cornerback Tre Flowers (saß im oft zitierten „Sophomore Slump“ fest).

Ansah kam in der Offseason 2019 als Free Agent mit einem Vertrag über rund 8 Millionen US-Dollar nach Seattle. Doch mit ihm in den Pacific Northwest kamen die Bedenken, seine schwere Schulterverletzung sei noch nicht ausgeheilt. Im Nachhinein ist diese Enttäuschung vielleicht auch den Seahawks-Verantwortlichen zuzuschreiben, weil sie zu hoch pokerten. Ein 30 Jahre alter Defensive End, der noch nicht fit war und sowieso immer wieder große Leistungsschwankungen hatte in seiner Karriere, sollte der Schlüsselspieler und Frank-Clark-Ersatz in einer dünn besetzten Verteidigungslinie werden. Spoiler: Er wurde es nicht, weil er immer wieder angeschlagen (Schulter, Leiste, Nacken) fehlte und nie einen Rhythmus fand. Man möchte sich nicht ausmalen, wie die Defensive Line ohne Trade-Zugang Jadeveon Clowney ausgesehen hätte.

Nun ist der letzte Gedanke spekulativ, deshalb verweise ich lieber auf die nackten Zahlen zu Ansah: Bei Pro Football Focus wurde er über zwölf Einsätze hinweg insgesamt mit 56/100 Punkten bewertet. Das ist nicht die Note, die man sich von einem teuren und erfahrenen Pass Rusher erhofft. Er rangierte damit klar hinter Clowney, knapp hinter Shaquem Griffin und hauchdünn vor Rasheem Green und Branden Jackson (L.J. Collier war einsames Schlusslicht). Nimmt man die Akteure der inneren D-Line hinzu, rutscht der viertteuerste Spieler des gesamten Kaders in seiner Positionsgruppe auf den 7. Platz (von elf Spielern) ab.

Als @hummelmax habe ich bei Twitter in der vergangenen Woche folgenden Tweet gesehen und möchte nun noch darauf eingehen:

Ich habe mir lange Gedanken gemacht zu dieser Aussage und bin dann zu dem Schluss gekommen, dass ich es anders sehe. Dass die Seahawks unter Pete Carroll ihre Spielphilosophie nicht von einem einzelnen Spieler abhängig machen, zeigten sie 2019 ja eindrucksvoll auf schlechte Weise. An dieser Idee änderte natürlich auch die Verpflichtung Marshawn Lynchs nichts. Jeder andere Running Back seines Typs wäre ebenfalls in eine Wand aus Verteidigern hineingejagt worden.

Das Vielleicht an der Sache: Mit einem gesunden Chris Carson und einer weniger angeschlagenen O-Line hätte das womöglich besser funktioniert.

Die Problematik, die sich durch die vergangenen Jahre zieht, ist eine andere: das Festhalten an einer Spielidee, der das Personal aus verschiedenen Gründen (Verletzungen, Kaderniveau) nicht gewachsen ist.

Hier sind wir dann wieder an dem Punkt, an dem ich erwähnen möchte, dass Laufspiel nicht grundsätzlich schlecht ist. Die Frage, die sich stellt, ist nicht die nach dem Läufer (siehe Raheem Mostert für die San Francisco 49ers am Wochenende), sondern die nach der Art des Laufes und der Spielsituation. Wichtig ist, wie man auf unterschiedliche Gegebenheiten basierend auf bestimmten Voraussetzungen reagiert. Rookie Travis Homer haben die Verantwortlichen in Seattle aufgrund seiner Maße nie als Mann für Läufe durch die vollgeladene Mitte gesehen, weil er dafür nicht gebaut ist und weil er auch nicht Tackles bricht wie beispielsweise Chris Carson oder Marshawn Lynch zu seinen besten Zeiten.

Die Seahawks schickten Homer als Third-Down Back oft nach außen, wo er erfolgreich Yards sammelte. Damit war er eine gute Ergänzung zu Lynch (und wäre es auch zu jedem anderen neu verpflichteten Running Back gewesen). Von den Maßen her ähnelt Homer übrigens C.J. Anderson, der nach den Running Back-Ausfällen ebenfalls im Gespräch war, am Ende aber nicht in Seattle landete (und darüber bei Twitter schimpfte). Das könnte mit erklären, warum Seattle im Dezember 2019 Lynch Anderson vorzog.

Die Rückkehr Lynchs musste von Beginn an unter zwei getrennten Aspekten betrachtet werden – Hype und Leistung. Der Hype war riesig, weil der verlorene Sohn zurückkehrte, um seinem Herzensteam zu helfen und seine eigene Marke zu promoten. Ein Hauch von 2013 wehte durchs CenturyLink Field. Dass die Rückholaktion mit dem Titel „Unfinished Business“ vermarktet wurde, war clever, aber noch lange kein Grund, einen aus dem Ruhestand zurückgekehrten, 33 Jahre alten Running Back zum Heilsbringer und entscheidenden Puzzleteil auf dem Weg zum Super-Bowl-Titel zu machen.

Ich kann mir schon vorstellen, dass Pete Carroll in einzelnen Situationen wie 3rd oder 4th & Short oder Goal irgendwo den Drang verspürte, Lynch laufen zu lassen, um die Schmach aus Super Bowl XLIX vergessen zu machen (diese Geschichte wird leider niemand jemals vergessen). Aber kein Mensch weiß, ob Carroll nicht mit jedem anderen Running Back in diesen Situationen genauso gelaufen wäre. Da sind die Spekulationen unter Fans vermutlich größer als die Diskussionen unter den Trainern in Seattle. Am Ende machte der Rückkehrer aus Kurzdistanz-Läufen immerhin vier Touchdowns und brach dabei mehrfach Tackles.

Lynch bekam in den drei Partien, die er in dieser Saison für die Seahawks absolvierte, 30 Carries (im Schnitt zehn pro Spiel) und erzielte damit 67 Yards Raumgewinn (schwache 2,2 Yards pro Lauf). Die Carries hätte ein anderer Free-Agent-Running Back ebenfalls bekommen und wäre nicht viel erfolgreicher gewesen. Und: Auch dann hätte Russell Wilson nicht Russell Wilson sein dürfen.