Die Redaktion hat sich Gedanken gemacht zum Abschied von Cornerback Richard Sherman und ein paar Erinnerungen an die Zeit mit dem prägenden Verteidiger hervorgekramt. Über ein Shermie-Plüschtier, eine peinliche Begegnung in der Bourbon Street in New Orleans und Thanksgiving in Santa Clara.
Shermie: Als in der Redaktion die Idee entstand, Erinnerungen an Sherman aufzuschreiben, kamen mir natürlich, wie vermutlich uns allen, zuerst die sportlichen Highlights in den Sinn. Allen voran „The Tip“ aus dem NFC Championship Game der Saison 2013 gegen die San Francisco 49ers. Eines der besten und spannendsten Spiele, die ich je gesehen habe, mit der spielentscheidenden Szene durch Sherman, deren Bedeutung alleine dadurch schon deutlich wird, dass nur die legendärsten Spielzüge, die in die Geschichte eingehen, einen eigenen Namen bekommen (Beast Quake, Immaculate Reception, Philly Special, Kick Six).
Als nächstes kam mir der Aktivist Sherman in den Sinn. Ein Spieler, der auf und abseits des Platzes seine Klappe nicht halten kann, der aber auch weiß, wie er daraus Kapital schlägt und Aufmerksamkeit erregt. Und der weiß, wie er beides für den guten Zweck einsetzen kann. Häufig blitzte dabei seine Intelligenz auf, sodass es auch spannend war, auf die Zwischentöne in seinen Äußerungen zu achten. Seine Spielweise und seine medialen Aktivitäten abseits des Platzes waren Teil der Persönlichkeit, die er zeigen wollte, um die eigene Marke zu etablieren.
Ich habe mich aber dazu entschlossen, etwas auszuwählen, das Sherman nicht an die große Glocke gehängt hat. Etwas, das er nicht für Aufmerksamkeit gemacht hat und was wir vielleicht nie mitbekommen hätten, wenn es nicht andere Leute weiterverbreitet hätten. Wenn er zum Beispiel mit seiner Blanket Coverage Foundation Schulen in sozialen Brennpunkten in den ganzen USA besuchte, um Schüler mit Lernmaterialien zu versorgen. Oder wenn er hunderte mit Toilettenartikeln und anderen Gegenständen gefüllte Rucksäcke an Obdachlosenheime in Seattle spendete. Oder wenn er an Weihnachten bedürftige Familien einlud und beschenkte. Oder aber die Geschichte, die ich mir für diesen Beitrag ausgesucht habe:
Es ist die Geschichte von Ellie, einem kleinen Mädchen, das den Großteil seiner ersten vier Lebensjahre häufiger im Krankenhaus als außerhalb verbrachte. Unterstützt hat sie dabei seit sie 18 Monate alt war kein Plüschtier, sondern ein Plüsch-Sherman zum Kuscheln. Der liebevoll Shermie getaufte Begleiter war bei allen Untersuchungen, Operationen und Behandlungen treu an ihrer Seite. Als Ellie dann noch erfuhr, dass ihr Freund aus Plüsch eine echte Person ist, die sie im Fernsehen anfeuern konnte, war vermutlich der größte kleine Sherman-Fan geboren. Sie unterstütze ihn bei jedem Spiel am Fernseher, machte sich Sorgen, wenn er verletzt war und freute sich mit ihm über jede Interception. Doch eines Tages kam Shermie abhanden und Ellie fehlte etwas, das sie mehr als ihr halbes Leben begleitet hatte. Jemand vom Krankenhaus kam auf die Idee, Sherman direkt zu kontaktieren, um ihn auf seinen kleinen Fan aufmerksam zu machen.
Auch wenn viele Spieler in der NFL sich für soziale Zwecke engagieren, so haben sie noch einen eigentlichen Job als Spieler und können nicht auf jede Anfrage reagieren. Sherman aber wollte und konnte und es dauerte nur ein paar Tage, bis er, begleitet von seiner Familie, mit einem neuen Shermie im Krankenhaus auf Ellie wartete. Die nutzte die Chance natürlich sofort, forderte den besten Cornerback der Liga zu einem Wettrennen auf (das er verlor), machte Seifenblasen mit ihm und bekundete ihre Liebe.
Für mich zeigt diese Story, was für ein toller Mensch Sherman außerhalb der öffentlichen Person ist. Häufig ist es so, dass man, wenn man Idole abseits vom Scheinwerferlicht kennenlernt, enttäuscht ist von der Distanz der Stars. Ich glaube, bei Sherman ist das nicht der Fall und er ist abseits des Platzes und der Kameras genauso, wie ich mir das von einem Spieler erhoffe, den ich als einen der besten und prägendsten in meiner aktiven Fankarriere in Erinnerung halten werde. Long live the L.o.B.! Jörn Degreif
Zu dick und zu langsam: Anfang 2013, als die Seahawks noch nicht in aller Munde und gerade in den Playoffs gegen die Atlanta Falcons ausgeschieden waren, stand der noch relativ unbekannte Richard Sherman in New Orleans in der weltberühmten Bourbon Street und stellte für das Sportportal Bleacher Report Passanten die Frage aller Fragen: Wer ist der beste Cornerback der Liga – Darrelle Revis oder Richard Sherman? Keiner der Befragten erkannte Sherman, aber alle hatten eine Meinung. Am eindrucksvollsten war die eines rund 50 Jahre alten Herren mit roter Schildmütze auf dem Kopf, die ihn als Fan der San Francisco 49ers kennzeichnete: „Sherman ist zu fett und zu langsam“, blaffte er seinem Gegenüber – Richard Sherman – ins Gesicht: „Und er ist ein Punk und er hat gedopt.“ Es folgten noch ein paar Schimpfwörter, die im Videobeitrag zensiert wurden. Revis dagegen sei ein Shutdown-Cornerback. Dann gab sich Sherman dem Niners-Fan zu erkennen. „Das bist wirklich du?“, fragte der nun verunsicherte Mützenträger. Es tue ihm leid, es tue ihm leid, es tue ihm leid. Sherman hatte seinen Spaß, nahm es dem peinlich berührten Niners-Fan aber nicht übel. Ob der seine Meinung inzwischen geändert hat? Maximilian Länge
Happy Thanksgiving: Neben dem legendären NFC Title Game gegen die 49ers, das Jörn bereits thematisiert hat, fällt mir noch ein weiteres Spiel ein, wenn ich an die kurzen aber intensiven Rivalry-Jahre mit San Francisco zurückdenke. Am 27. Oktober 2014 spielten die Seahawks bei den Niners und verließen dank einer starken Defense das damals noch nagelneue Levi’s Stadium in Santa Clara, Kalifornien mit einem 19:3-Sieg. Sherman fing dabei zwei Interceptions und hatte maßgeblichen Anteil am Erfolg. Denke ich heute an das Spiel zurück, habe ich aber nicht die zwei Picks, sondern andere Bilder von Sherman im Kopf: Der Cornerback sitzt nach der Partie mitten auf dem Spielfeld und beißt beherzt in ein ein Stück Truthahn. Es war Thanksgiving und gemeinsam mit Quarterback Russell Wilson war Sherman zum Spieler des Spiels gewählt wurden. Er durfte den von TV-Sender NBC bereitgestellten Vogel auf dem Logo der 49ers sitzend anbeißen. Und ihn später zu seinen Mitspielern in die Kabine bringen. Welch Demütigung für die Fans von San Francisco. Irgendwie ist es schon sehr ironisch, Sherman jetzt in Rot und Gold spielen zu sehen. Aber ich wünsche ihm dort alles Gute und bedanke mich für die Zeit in Seattle. Jannis Wiese
Richard Sherman carries the Thanksgiving turkey off the field like a trophy! pic.twitter.com/2s7E1Z2MnA
— Bleacher Report (@BleacherReport) November 28, 2014
„The Best Corner In The Game“: Während der Saison 2013 lebte ich in Eugene, Oregon an der US-Westküste in einer WG mit einem Fan der New York Jets. Nach der Uni unterhielten wir uns abends bei zahlreichen Duellen am Tischkicker oft über American Football. Er klagte mir sein Leid über die desaströsen Jets und deren einstigen Hoffnungsträger Mark Sanchez, ich schwärmte vom Lauf der Seahawks. Der Knotenpunkt, an dem wir oft ankamen bei unseren Diskussionen über die Lage der Liga: die zwei besten Cornerbacks – Darrelle Revis und Richard Sherman. Wer war denn nun besser? Für Revis sprach, dass er die besten Receiver der Gegner übers ganze Feld begleitete, für Sherman sprach, dass er die Statistiken in allen relevanten Bereichen anführte. Gegen Revis sprach, dass er zu diesem Zeitpunkt schon seinem alternden Körper Tribut zahlen musste, gegen Sherman, dass er nur eine Seite des Feldes abdeckte und ein Großmaul war.
Ich habe da dann immer – die Fan-Brille tragend – gesagt, dass ich Großmäuler auch nicht mag, aber Sherman eben anders sei, weil er seine große Klappe mit Leistung zu einhundert Prozent rechtfertige. Solange er liefere, könne er pöbeln, so viel er wolle, fand ich. Mein Mitbewohner fragte sich, warum Sherman im Stile eines Möchtegern-Wrestlers gegen den (umstrittenen) TV-Experten Skip Bayless wetterte, andere Cornerbacks auf Twitter attackierte und Reporterin Erin Andrews nach dem NFC Championship Game dieses denkwürdige Interview gab. Damit zerstöre er die gemeinnützige Arbeit, die er durchaus leiste, befand mein amerikanischer Freund. Ich muss zugeben, dass ich auch zunächst irritiert war über das Interview nach dem Einzug in den Super Bowl. Dabei ist es nichts ungewöhnliches, dass Sportler so kurz nach dem Spiel noch voll Adrenalin sind und derartige Reaktionen erwartbar sind – Mario Gomez‘ und Per Mertesackers Antworten auf Reporterfragen sind Beispiele aus dem Fußball dafür. Es macht den Sport und seine Nebenschauplätze sogar attraktiver. Denn in allen Aussagen Shermans sehe ich einen tieferen Sinn. Seine Abneigung gegenüber Möchtegern-Meinungsmachern wie Skip Bayless, seine Auseinandersetzung mit dem ehemaligen 49ers-Receiver Michael Crabtree mit dessen beleidigenden Aussagen und Shermans Revanche auf dem Spielfeld, der legitime Wunsch nach Anerkennung für Bestleistungen. Mir hat das immer gefallen. Besser fand ich nur noch die Pressekonferenzen, die Sherman mit einer zurechtgelegten Agenda abhielt. Mal ging es um unnötige Spiele an Donnerstagen, mal um Polizeigewalt und legitime Proteste, mal ging er als Harry Potter, mal im Tandem mit Doug Baldwin. Der Cornerback wusste schon immer, wie er sich in den Medien präsentieren musste, um Aufmerksamkeit zu erregen, er wird das auch in San Francisco weiter tun. Ich glaube, auch dann wird es mir weiter gefallen. Aber vielleicht verstehe ich dann die Perspektive meines ehemaligen Mitbewohners noch besser. Maximilian Länge