Recap: Regular Season 2019 (Week 17) – 49ers @ Seahawks

Es haben nur ein paar Zentimeter gefehlt zum Bilderbuch-Finale und zum NFC-West-Titel. Oder ein bisschen Cleverness. Oder ein bisschen Mithilfe der Schiedsrichter. Weil aber all das am frühen Montagmorgen nicht vorhanden war, unterlagen die Seattle Seahawks nach starker Rückkehr in der zweiten Halbzeit verdient den San Francisco 49ers mit 21:26 und müssen damit als zweitplatziertes Team der NFC West auswärts in der Wild-Card Round bei den Philadelphia Eagles ran. In allen Mannschaftsteilen ist dann eine Steigerung erforderlich, um das Playoff-Abenteuer zu verlängern und die Chance auf eine Revanche zu erhalten.

Vor dem Blick voraus gibt’s aber den Blick zurück. Eine Reihe von Faktoren spielte bei der größtenteils selbstverschuldeten und der Stärke der Niners geschuldeten Niederlage der Seahawks eine Rolle. Darauf soll im Folgenden eingegangen werden.

Positiv:

QB Russell Wilson: Der Spielmacher der Seahawks hatte es verdammt schwer. Bis Beginn der zweiten Halbzeit machten ihm seine eigene O-Line und die D-Line der 49ers so sehr zu schaffen, dass er kaum Zählbares zustandebringen konnte. Dann aber fand Wilson seinen Rhythmus und entdeckte, wie er San Franciscos Verteidigung schlagen konnte. Durch großartige Pocket-Bewegung in der nicht oft vorhandenen Pocket machte er beispielsweise aus einem fast toten Spielzug einen Touchdown. Dabei zeigte er vor allem fantastisches Bewusstsein für seine Umgebung und vermied beim Wurf auf Wide Receiver Tyler Lockett gerade so einen illegalen Vorwärtspass, weil nicht sein kompletter Körper die Line of Scrimmage überquert hatte.
Seine Sunday-Night-Football-Stats: 25/40, 233 Yards, zwei Touchdowns, null Interceptions. Dazu kamen bei acht Läufen 29 Yards. Außerdem knackte Wilson zum dritten mal in einer Saison die 4.000 Yards durch die Luft.

WR DK Metcalf: Der Rookie war die Anspielstation schlechthin, als Tyler Lockett nicht auf dem Feld oder gut abgeschirmt war und am Ende noch die Chance auf den Sieg da war. Ob Comeback-Route, Backshoulder oder Slant – Metcalf war anspielbar. Er fing sechs seiner oft hart umkämpften zwölf Targets für 81 Yards (13,5 Yards pro Fang) und einen Touchdown.
Metcalf beendet seine erste Regular Season in der NFL mit 58 Fängen für 900 Yards und sieben Touchdowns. In der Franchise-Geschichte hatte nur Joey Galloway 1995 als Rookie mehr Catches und Receiving-Yards (67 für 1.039).

RB Travis Homer: Marshawn Lynch und Robert Turbin dominierten die Schlagzeilen unter der Woche, aber der Rookie war es, der auf dem Spielfeld dominierte. Homer erlief aus zehn Versuchen 62 Yards (6,2 Yards pro Lauf) und holte bei fünf Fängen 30 Yards raus. Seine Läufe über die Außenbahnen führten meist zu viel Raumgewinn, während in der Mitte oft Rückkehrer Marshawn Lynch gegen eine Wand aus Verteidigern prallte.

Neutral:

RB Marshawn Lynch: Im zweiten Drive Seattles berührter der 33 Jahre alte Running Back erstmals den Ball – und trug ihn direkt über fünf Yards. Das Stadion tobte, verstummte aber beim abermaligen Punt wenige Sekunden später schnell wieder. Den Fünf-Yard-Schnitt konnte Lynch am Ende nicht halten, weil er oft durch die zugestellte Mitte gehen musste (12 Läufe, 34 Yards, 2,8 Yards pro Lauf). Es war nicht zu erwarten, dass Lynch nach mehr als einem Jahr Pause (sein letztes Spiel war das der Oakland Raiders vor 441 Tagen gegen die Seahawks in London) aufs Feld kommen und sein Team zum Sieg laufen würde. Möglich wäre genau das am Ende dennoch gewesen (siehe: Game Management).
Der Läufer kämpfte sich wie seine O-Line ins Spiel und brachte die Zuschauer jedes Mal, wenn er den Kunstrasen betrat, zum Jubeln. Und: Er besuchte Anfang des vierten Viertels sogar fliegend die Endzone im CenturyLink Field, wo es erstmals seit 2015 wieder Skittles regnete.

WR John Ursua: Der bislang so selten eingesetzte Rookie war es, der kurz vor Schluss bei 4th & 10 an der gegnerischen 1 den Ball für elf Yards fing und den Seahawks vier neue Versuche gab, das Spiel doch noch zu gewinnen. Aber dann… (siehe: Game Management)

Negativ:

Game Management: Es hätte das perfekte Drehbuch-Happy-End sein können: Die Seahawks waren nach dem Ursua-Catch an San Franciscos 1 und hatten die Uhr per Spike gestoppt. Dann aber schafften sie es nicht, sich innerhalb 40 Sekunden rechtzeitig fürs Second Down zu formieren und kassierten eine „Delay of Game“-Strafe, die sie fünf Yards nach hinten versetzte. Tight End Jacob Hollister erklärte nach der Partie, dass die Spieler unorganisiert aus dem Huddle gekommen seien, Tyler Lockett war überrascht, dass die Play-Uhr in diesem Moment gefühlt schneller als normalerweise heruntergelaufen sei, Pete Carroll nahm das Versäumnis auf seine Kappe und erklärte es mit einer Misskommunikation mit den Running Backs.
Ohne Strafe hätte Seattle Marshawn Lynch bei entsprechender Formation der Verteidigung den Ball geben können, damit er ihn zum Sieg in die Endzone tragen kann – oder es zumindest versucht. Sein zweiter Touchdown wäre die Krönung dieses verrückten Spiels gewesen. Niemand wird jemals erfahren, ob das der Plan war und ob er funktioniert hätte.

O-Line: Es war so zu befürchten. Als Beschützer von Russel Wilson liefen von links nach rechts George Fant, Mike Iupati, Joey Hunt, D.J. Fluker und Germain Ifedi auf – ihrer Aufgabe kamen sie aber zu selten zuverlässig nach. Der Quarterback musste improvisieren, bekam kaum Zeit in der Pocket und wurde auch vom Play Calling her zu selten mit Rollouts, Screens oder Play Action entlastet.
In der zweiten Halbzeit aber stabilisierte sich die Angriffslinie sowohl in der Pass Protection als auch beim Lauf-Blocking ein wenig, sodass Russell Wilson und die Running Backs zumindest die Chance bekamen, ins Spiel zu finden.

Schiedsrichter: Das hier ist eine der klarsten „Defensive Pass Interference“-Strafen überhaupt, seit es Challenges gibt. Den Videobeweis nahmen die Zebras an dieser Stelle dennoch nicht zur Hilfe, um sich die Aktion nochmals anzusehen. In New York City hatten sich Offizielle die Szene aber wohl angesehen. Es bleibt dennoch der Eindruck, dass der Videobeweis bei Pass Interference von der NFL nur eingeführt wurde, um kurzfristig für Ruhe zu sorgen. Ein echtes Interesse, das Spiel damit fairer zu machen, scheint nicht zu bestehen. Unabhängig davon hatten die Seahawks beste Chancen, das Spiel auch ohne DPI-Flagge noch zu gewinnen.
Eine andere Sache fällt dennoch immer wieder auf: Russell Wilson wird beim Sliden nicht so geschützt wie andere (meist weiße) Quarterbacks.

Tackling: Reihenweise flogen Seahawks-Verteidiger an ihren Gegenspielern vorbei. Um nur ein paar zu nennen: Safety Lano Hill und Linebacker Mychal Kendricks flogen überall hin, bloß nicht auf ihre weiß-roten Kontrahenten.
Der nahezu untacklebare 49ers-Tight-End George Kittle fand wie seine Receiver-Kollegen Deebo Samuel und Emanuel Sanders immer Raum in den Nahtstellen der Seahawks-Defense und sammelte dann ordentlich Yards nach dem Fang. San Franciscos Spielmacher Jimmy Garoppolo bediente sie ohne großen Druck (nur zweimal zu Boden gebracht) mit einfachen Pässen, sodass er nie Gefahr lief, einen schwerwiegenden Fehler zu machen – smart geplant von 49ers-Cheftrainer Kyle Shanahan. Den Rest erledigte die träge Base-Formation der Seahawks, die zwar den Lauf der 49ers halbwegs in Grenzen hielt (außer an der Goal Line), gegen Slants, Sweeps und Pässe aber zum krassen Nachteil wurde.
Einer der wenigen Lichtblicke beim Tackling: Linebacker K.J. Wright. Der Veteran hat den Ruf, besonders Screen-Pässe hervorragend auszuschnüffeln und zu verteidigen. Beides tat er gegen die 49ers und verlieh seinen Aktionen kurz vor der Pause und zu Beginn der zweiten Halbzeit durch impulsive Tackles Nachdruck. George Kittle musste sich mehrfach schütteln, nachdem er direkt beim Fangen eines Balls die Umarmung Wrights zu spüren bekommen hatte.

Play Calling: Die 49ers waren auf alles von Bootleg über Kurzpass bis Shuffle vorbereitet. Das Play Calling der Seahawks war abgesehen von den scheinbar unvermeidbaren Laufspielzügen zum falschen Zeitpunkt definitiv nicht einseitig, doch die Ausführung der Spieler war in der ersten Halbzeit meist mangelhaft. Erst nach der Pause kam die Offensive halbwegs in die Gänge.
Übrigens: Die versuchte Fourth-Down Coversion kurz vor der Halbzeitpause an San Franciscos 31 war die richtige Entscheidung. Der dazugehörige Play Call war dann aber höchst fragwürdig. Volle Box, 33 Jahre alter Running Back (von dem jeder ahnt, dass er nach einer Woche Mannschaftstraining nicht wirklich ins Passspiel eingebunden ist), unterirdische O-Line. ABER: Fast jeder Fan hätte auch gejammert, wenn Offensive Coordinator Brian Schottenheimer nicht auf Laufspielzug über Lynch entschieden hätte und der Pass schiefgegangen wäre, oder? Es ist einfach nicht so einfach – dieses Play Calling.

Verletzungen:

Alle drei vor der Partie fraglichen Spieler (TE Luke Willson, FS Quandre Diggs, OL Ethan Pocic) waren inaktiv. Willson war am Freitag im Abschlusstraining unglücklich auf die Hüfte gefallen und nachträglich auf dem Injury Report aufgetaucht. Sie dürften aber pünktlich zu den Playoffs alle zurückkehren.

Wide Receiver Jaron Brown und Linebacker Mychal Kendricks mussten das Spielfeld beide mit Knieverletzungen verlassen und kehrten nicht zurück. Pete Carroll sprach bei der Pressekonferenz nach dem Spiel vage von überdehnten/gestauchten Knien, konnte aber nicht weiter Auskunft geben. Nummer-eins-Receiver Tyler Lockett verletzte sich am Rücken, kehrte aber in den Schlussminuten zurück.

Fazit:

Die Offensive der Seattle Seahawks kam spät in die Gänge, die Defensive zu selten richtig. Am Ende waren die San Francisco 49ers über den gesamten Spielverlauf hinweg das konstantere Team und siegten verdient, auch wenn es in den letzten Sekunden der Partie anders hätte kommen können, wenn nicht ein paar Zentimeter gefehlt hätten.

Niners-Head-Coach Kyle Shanahan attackierte gezielt die Schwachstellen der Seahawks und machte seinem Quarterback das Spiel so einfach wie möglich. Dadurch minimierte er das Risiko für Fehler, die San Francisco in Week 10 noch den Sieg gekostet hatten. Aber nicht alles war schlecht. Rookie Travis Homer zeigte, dass er mit seiner Spielweise Seattles Offensive beleben kann. Die Moral im Team stimmt und machte die Aufholjagd möglich. Rückkehrer Marshawn Lynch bewies, dass er noch fit ist. Die Passverteidigung ließ keinen Touchdown zu. Die Seahawks verwandelten prozentual mehr Third Downs als die Niners. Die Offensivstrategie wurde zumindest teilweise optimiert in der zweiten Halbzeit. Seattle hatte (wie San Francisco) keinen einzigen Ballverlust.

Als Tabellenzweiter der NFC West und fünftplatziertes Team der National Football Conference mit einem Record von 11-5 (was so kaum jemand erwartet hatte) reisen die Seahawks am kommenden Wochenende nach Pennsylvania. Dort treten sie am Sonntag um 22.40 Uhr deutscher Zeit in der Wild-Card Round der Playoffs bei den Philadelphia Eagles an, die sich in der Nacht Platz 1 in der NFC East sicherten.

Zum Wiedersehen mit den 49ers könnte es dann bereits Mitte Januar kommen, wenn San Francisco als Nummer eins der Setzliste im eigenen Stadion das am niedrigsten gesetzte Team der NFC-Playoffs in der Divisional Round empfängt. Falls die New Orleans Saints in der Wild-Card Round erwartungsgemäß die Minnesota Vikings schlagen und die Seahawks die Eagles, bekäme Seattle schon in zwei Wochen die Möglichkeit zur Revanche.

Wer jetzt sagt, dass die Seahawks mit einem Auswärtsspiel besser bedient, weil sie den vermeintlich schwereren Gegnern damit aus dem Weg gehen und in der Fremde in diesem Jahr den besten Record der Franchise-Geschichte hatten (7-1), der sei freundlich darauf hingewiesen, dass Heimspiele in den Playoffs extrem wichtig sind und die Seahawks ihre besten drei Gegner (New Orleans Saints, Baltimore Ravens, San Francisco 49ers) im CenturyLink Field empfingen.

Historisch gesehen ist Seattle in der Postseason zu Hause eine Macht und auswärts schwach: 13-4 daheim steht 3-12 in Gegners Stadien gegenüber. Und wer die allgemeinen Statistiken betrachtet wird sehen, dass Heimspiele und Bye Weeks in den Playoffs oft den entscheidenden Vorteil gebracht haben (siehe 2005, 2013 und 2014). Viel steiniger als über drei Auswärtsspiele kann der Weg in den Super Bowl kaum sein. Möglich ist er natürlich trotzdem, wenn auch nicht wahrscheinlich.